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  • Viele Deutsch-Türken fühlen sich in Deutschland nicht zu Hause

    Viele Deutsch-Türken fühlen sich in Deutschland nicht zu Hause

    Von Anna Reimann

    Getty Images

    Wie religiös sind Deutsch-Türken, wie wohl fühlen sie sich in der Bundesrepublik? Eine Umfrage gibt Aufschluss über Einstellungen und Gefühle von der ersten bis zur dritten Gastarbeitergeneration. Das Ergebnis: Viele fühlen sich zerrissen, immer mehr planen die Rückkehr in die Türkei.

    Berlin – Ankara, Antalya, Izmir und Istanbul statt Berlin, Köln, Hamburg und Duisburg: Gut fünfzig Jahre nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland kamen, träumen immer mehr Deutsch-Türken davon, irgendwann in die Türkei zurückzukehren.

     

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    Das ist ein Ergebnis der neuen repräsentativen Umfrage des Instituts Info GmbH unter insgesamt 1011 Deutsch-Türken. Das Resultat steht symbolisch für eine Grundtendenz: Zwar ist die Zahl derer, die sich ohne Wenn und Aber integrieren und dazugehören wollen, in den vergangenen Jahren gestiegen – aber das ist nur die eine Seite. Denn andererseits steigt laut Studie auch die Neigung einiger, sich abzuschotten.Beunruhigend sind vor allem zwei Befunde: Zum einen steigt die Intoleranz gegenüber anderen Religionen. Zum anderen gaben in den Telefoninterviews deutlich mehr Befragte als in den Jahren zuvor an, sie seien wegen ihrer türkischen Wurzeln schon körperlich angegriffen worden.

    Diese Zerrissenheit zwischen dem eigenen Bemühen dazuzugehören und Zurückweisung, zwischen eigener Provokation und Intoleranz stimmt mit den Ergebnissen anderer Studien überein. Zuletzt hatte sich eine vom Innenministerium in Auftrag gegebene Studie mit Lebenswelten junger Muslime – unter denen Deutsch-Türken die größte Gruppe ausmachen – beschäftigt. Das Ergebnis: Eine kleine Gruppe wird immer religiöser, die Mehrheit aber will sich integrieren. Viele leiden unter Vorurteilen – und haben selbst Vorurteile. Vor allem von denen, die in Deutschland geboren sind, die in Deutschland geprägt wurden, für die sich Deutschland von Anfang an zuständig gefühlt haben sollte, scheinen immer mehr abzudriften.

    Die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie sind (siehe auch Grafiken in der Fotostrecke):

     

    • Heimatgefühl: Deutschland wird von den Befragten immer seltener als Zuhause empfunden. 2009 gaben 21 Prozent an, dass Deutschland „eher“ ihre Heimat sei als die Türkei, 2012 sind es nur noch 15 Prozent. Hingegen ist die Zahl derer, die beide Länder als ihre Heimat begreifen, gestiegen, von 38 Prozent 2009 auf jetzt 45 Prozent. Am stärksten empfinden laut der Studie die unter 30- Jährigen (26 Prozent) Deutschland als ihre Heimat, am ehesten die Türkei als Heimat sehen die Befragten der mittleren Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren (42 Prozent).
    • Rückkehr in die Türkei: Die Zahl derer, die plant, in die Türkei zurückzukehren, ist leicht gestiegen – von 42 auf 45 Prozent. Auffällig ist hier, dass die mittlere Generation am seltensten ausschließt, Deutschland zu verlassen – nämlich nur 38 Prozent. Insgesamt geben 63 Prozent der Befragten als Gründe für eine Rückkehr in die Türkei an, dort sei ihre Heimat. 57 Prozent sagten als Grund, sie wollten dort als Rentner leben. Nur sechs Prozent planen diesen Schritt mit dem Ziel, sich Arbeit in der Türkei zu suchen. Von denen, die in den kommenden zehn Jahren in die Türkei zurückkehren wollen, haben besonders viele Ablehnung auf dem Arbeitsmarkt erfahren.
    • Deutsch lernen: Eine überragende Mehrheit hält es für unerlässlich, dass Kinder aus türkischen Familien von klein auf Deutsch lernen. Die Zahl derer, die sagen, alle türkischstämmigen Kinder sollten eine Kita besuchen, damit sie bei Schulbeginn gut Deutsch sprechen könnten, ist seit 2010 sogar leicht angestiegen – auf jetzt 95 Prozent.
    • Integrationswille: Ein gemischtes Bild ergibt sich bezüglich der Einstellung zu Deutschland: 79 Prozent halten Deutschland für ein weltoffenes Land, „in dem es jeder unabhängig von seiner Herkunft zu etwas bringen kann“ (2010: 77 Prozent). Andererseits stimmten 87 Prozent (vier Prozent mehr als 2010) der Aussage zu: „Die deutsche Gesellschaft sollte stärker auf die Gewohnheiten und Besonderheiten der türkischen Einwanderer Rücksicht nehmen.“ Insgesamt ist der Wille zur Integration gestiegen: 78 Prozent sagten, sie möchten sich „unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft integrieren“ (2010: 70 Prozent). 75 gaben an, sie wollten ohne Abstriche zur deutschen Gesellschaft dazugehören – 2010 waren es nur 59 Prozent.
    • Abschottung: Nur acht Prozent der Befragten stimmten grundsätzlich der Aussage zu: „Am besten wären reine türkische Grundschulen für türkischstämmige Kinder, die von anderen Migranten oder Deutschen nicht besucht werden“ (2010: 15 Prozent). Aber: Die Zahl derer, die sagten, sie seien am liebsten nur mit Türken zusammen, ist von 40 auf 62 Prozent gestiegen.
    • Blick auf andere Religionen: Die Intoleranz und Verachtung gegenüber anderen Religionen hat zugenommen. 18 Prozent (2010: 14 Prozent) gaben an, dass sie Juden als „minderwertige Menschen“ empfinden, 25 Prozent stimmten der gleichen Aussage für Atheisten zu, acht Prozent für Christen. 70 Prozent der unter 30-jährigen Deutsch-Türken finden, dass es mehr Moscheen in Deutschland geben sollte – insgesamt ist dieser Wert von 49 auf 55 Prozent gestiegen. Gleichzeitig erklärten 72 Prozent, der Islam sei „die einzig wahre Religion“ – das sind drei Prozent mehr als 2010.
    • Religion: Die Zahl derer, die sich selbst als streng religiös einstuft, ist von 2009 bis 2012 von 33 auf 37 Prozent gestiegen. Die Zahl derer, die sich als streng religiös oder ziemlich religiös einstufen, ist bei den Unter-30-Jährigen am größten (64 Prozent) – von den jungen Deutsch-Türken befürworten auch fast zwei Drittel die umstrittene Koran-Verteilaktion von Salafisten in deutschen Städten. Insgesamt 68 Prozent der Befragten gaben allerdings an, dass Religion und Staat strikt getrennt werden sollten. Dass die jüngste Generation gerade bei religiösen Aspekten etwas radikalere Ansichten zeige als die Älteren, sei „möglicherweise auch auf die Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins zurückzuführen, das einerseits wahrscheinlich eine Antwort auf den empfundenen gesellschaftlichen Druck ist, andererseits jedoch auch auf die empfundene Position ‚zwischen den Welten‘ zurückzuführen sein dürfte“, so das Fazit des Geschäftsführers der Info GmbH, Holger Liljeberg.
    • Diskriminierung: 2010 sagten 42 Prozent, sie seien in der Öffentlichkeit bereits wegen ihres türkischen Aussehens beschimpft worden, 2012 sind es nur noch 29 Prozent. Stark gestiegen ist aber die Zahl derer, die angab, bereits körperlich „wegen ihrer türkischen Abstammung“ angegriffen worden zu sein – sie ist von 8 auf 16 Prozent angestiegen. Unter den 15- bis 29-Jährigen sagten knapp die Hälfte der Interviewten, sie seien schon wegen ihrer Religionszugehörigkeit beschimpft worden, von den über 50-Jährigen beantworteten das nur knapp über zehn Prozent mit ja.
    • Familienpolitik: Auch zur aktuellen politischen Diskussion ums Betreuungsgeld haben die Interviewer gefragt. Das Ergebnis: Deutsch-Türken lehnen die Prämie überwiegend ab und würden sie auch nicht in Anspruch nehmen. 56 Prozent der Befragten glauben, dass das Geld zu einer schlechteren Integration der Kinder und zu sinkenden Kita-Besuchszahlen führen wird. 61 Prozent der Befragten erklärten, sie würden die 150 Euro im Monat eher nicht in Anspruch nehmen.
  • Wie Türken in Deutschland die Politik sehen

    Wie Türken in Deutschland die Politik sehen

    Während in der Türkei fast 85 Prozent zur Wahlurne gegangen sind, macht sich bei vielen Türken in Deutschland Politikverdrossenheit breit. Sie fühlen sich vernachlässigt, sehen sich als Europäer zweiter Klasse.

    Die Türkei hat gewählt. Im Land selbst war die Wahlbeteiligung hoch. Doch wie wurde die Wahl unter den 2,8 Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland wahrgenommen? Das Interesse vieler von ihnen an Politik scheint zu schwinden – an der deutschen wie auch an der türkischen, kritisiert Cebel Küçükkaraca, stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland gegenüber dw-world.de am Montag (13.06.2011). „Zu oft wurden von der deutschen Politik in den letzten Jahren Versprechungen gemacht, die dann nicht gehalten wurden“,  so Küçükkaraca. „Dabei gibt es viele Probleme. Besonders im Bereich Bildung muss die deutsche Politik etwas für die Türken tun. 20 Prozent der türkischen Kinder verlassen die Schule heute ohne Abschluss.“ Er warnt: Viele Türken hierzulande fühlten sich von der deutschen Politik nicht ernst genommen.

    Bürokratische Barrieren erschweren Teilhabe

    Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift:  Cebel Küçükkaraca, Vize-Chef der Türkischen Gemeinde in DeutschlandDoch was ist mit den türkischen Politikern und den Erwartungen an sie? Immerhin 55 Prozent der Türken in Deutschland haben einen türkischen Pass und sind bei den Parlamentswahlen am 12. Juni wahlberechtigt gewesen. Doch das Wählen wird ihnen schwer gemacht. Ihre Stimme können Türken nur in der Türkei abgeben, nicht in den türkischen Konsulaten oder der Botschaft in Deutschland. Auch die Möglichkeit zur Briefwahl gibt es nicht.

    Die Türken aus Deutschland müssen nach wie vor in die Türkei fliegen, wo der Zoll für sie an den Flughäfen Wahllokale einrichtet. „Ich kenne einige Leute, die extra geflogen sind um zu wählen“, sagt Küçükkaraca. „Doch bei Türken, die schon in der dritten oder vierten Generation hier sind, fehlt daran das Interesse. Sie bezeichnen sich eher als Deutsch-Türken oder noch viel häufiger als Berliner, als Hamburger, als Kieler und so weiter. Identitätsbildung spielt da eine große Rolle.“

    Mehrheit der Türken in Deutschland pro Erdogan

    1961 wurde das Gastarbeiter-Abkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Wenn im Oktober dieses Jahres Angela Merkel und der wiedergewählte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zusammenkommen, werden sie nicht nur das Jubiläum der türkischen Migration nach Deutschland begehen, sondern auch über das deutsch-türkische Verhältnis sprechen. „Die Türken sollen mit der deutschen Regierung zusammenarbeiten“,  fordert Küçükkaraca, „und Erdogan sollte dabei berücksichtigen, dass sich die Interessen der Türkei und die Interessen der Migranten in Deutschland nicht immer decken.“

    Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift:  Das Nebeneinander von Deutschen und Türken ist vielerorts in Deutschland ganz normalEr beobachtet, dass sich unter den Politikinteressierten in der türkischen Community in Deutschland in den letzten Jahren eine „starke Unterstützung für Erdogans AKP“ herauskristallisiert hat. Immer wieder versuche die Regierung Erdogans, auf die Türken in Deutschland Einfluss zu nehmen. 2008 zum Beispiel hielt der Ministerpräsident eine Rede vor 14.000 Türken in Köln, in der er vor einer zu starken Assimilation warnte, diese gar als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete. Solche Vorstöße sieht Küçükkaraca kritisch. Für die Zeit nach den Wahlen hat er deshalb einen klaren Wunsch: „Die Türkei gehört zu Europa. Konservative islamische Einflüsse sollen nicht überwiegen. Wir als Türkische Gemeinde Deutschlands möchten, dass die Demokratisierung voranschreitet und der laizistische Staat erhalten bleibt.“

    Türkische Gemeinde in Deutschland will EU-Mitgliedschaft

    Trotz der nationalkonservativen Bestrebungen bezeichnet die AKP von Ministerpräsident Erdogan den EU-Beitritt nach wie vor als ihr „wichtigstes außenpolitisches Ziel“. Im diesjährigen Wahlkampf hat der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union trotzdem nur eine sehr kleine Rolle eingenommen und wurde von innenpolitischen Grabenkämpfen überlagert. Für die Türken in Deutschland spielt die Frage der EU-Mitgliedschaft ihres Heimatlandes jedoch eine entscheidende Rolle. „Die sogenannte ´Privilegierte Partnerschaft´ mit der Türkei ins Leben zu rufen, war das Schlimmste, was Frau Merkel je gemacht hat. Deshalb habe ich sie auch so oft kritisiert“, so Küçükkaraca.

    Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift:  Der Berliner Stadtteil Kreuzberg ist eines der Ballungszentren der Türken in DeutschlandWenn sich viele Türken, speziell der dritten und vierten Generation in Deutschland, nicht für Politik interessierten oder anfällig würden für islamisch-konservative Ansichten, läge das vor allem auch daran, dass sie sich als Europäer zweiter Klasse fühlten. „Für die Türkei kann es nur eine Alternative geben: die Vollmitgliedschaft in der EU!“, sagt Küçükkaraca.

    Dieses Ziel vor Augen, hofft er auch darauf, dass mehr seiner Landsleute in Deutschland anfangen, sich für Politik zu interessieren. „Ansprechpartner kann dabei aber nur die deutsche Politik sein. Die hier lebenden Türken sollen sich wenn, dann in der deutschen Politik engagieren.“ Die zunehmende wirtschaftliche Stärke der Türkei führt derweil in den letzten Jahren zu einer interessanten Trendwende: Laut Statistik gehen seit 2005 mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei zurück, als umgekehrt aus der Türkei nach Deutschland kommen.

    Autor: Friedel Taube
    Redaktion: Sabine Faber

  • Abschied vom Pascha

    Abschied vom Pascha

    Kazim Erdogan (Zweiter v.l.) ist Psychologe und Leiter der ersten türkischen Selbsthilfegruppe in Deutschland.
    Foto: Reto Klar

    Türken in Deutschland
    Abschied vom Pascha

    Von Isabella Kroth 16. August 2010

    In Berlin treffen sich Männer einer viel beschworenen „Parallelgesellschaft“. Das auch sie zwangsverheiratet wurden, denkt kaum jemand.

    Adem war der Erste, der das Wagnis einging. Jetzt sitzt er mit gut 20 Männern im Kreis. Er hält ein Gläschen mit Çay in der Hand und sagt: „Es ging um meine Ehre. Meine Frau hatte sie mit Füßen getreten.“

    Die anderen Männer um ihn herum nicken. Sie wissen, was er meint. Einer sagt: „Frauen sind die Ehre eines Mannes. Sie haben alles in der Hand – sie können diese Ehre mehren oder sie zerstören.“ Der Tee im elektrischen Samowar in der Ecke brodelt. Durch die große Fensterfront entschwindet das letzte Tageslicht. Hier in einem Dienstzimmer des „Psychosozialen Dienst Neukölln“ haben sich Männer einer viel beschworenen „Parallelgesellschaft“ versammelt. Männer, über die pauschale Bilder kursieren: Das der türkischen Paschas, die ihre Frauen daheim schlagen und ihre Ehre bis aufs Blut verteidigen, den Gebetskranz immer bei der Hand. Von Patriarchen, die ihre archaischen Sitten und Gebräuche mit nach Deutschland genommen haben.

    „Zerrbilder“, sagt Kazim Erdogan, der die Gruppe leitet. „Türkische Männer können genau wie Frauen zu Opfern einer patriarchalen Gesellschaft werden. Nur sprechen sie nicht darüber. Schwäche zuzugeben ist für sie ein Gesichtsverlust.“ Zudem: Hilfsangebote für türkischstämmige Männer gibt es kaum. Die Selbsthilfegruppe des Psychologen Erdogan ist alles andere als gewöhnlich. Jeden Montagabend sprechen hier die Männer über das, was sie belastet: die Bürde, als Mann immer stark sein zu müssen, Entscheidungsträger und Sittenwächter zu sein. Die Realität sieht oft anders aus.

    Adem, Türke und alleinerziehender Vater, wischt zu Hause das Klo aus

    Adem* ist alleinerziehender Vater. Daheim schrubbt er den Badezimmerboden und wischt das Klo aus, schneidet Gemüse und kocht die Suppe fürs Mittagessen mit seinen Kindern, dem 18-jährigen Halit und der sieben Jahre alten Bilal. Was bei der Familienidylle bei Adem daheim fehlt, ist die älteste Tochter – entführt, sagt er, von der Mutter in die Türkei. Eine Geschichte, die man so sonst nur umgekehrt hört. Das Kind vom Vater entführt.

    „Früher waren wir glücklich“, sagt Adem und es klingt, als habe er immer noch nicht realisiert, was eigentlich passiert ist. Früher, da hielt er sich an die ungeschriebenen Gesetze seiner Ehe mit der Cousine. Sie kümmerte sich um den Haushalt und die drei Kinder, er verdiente als Maschinenführer Geld für die Familie – rund 1700 Euro mussten für alle reichen, inklusive Onkel und Cousins in der Türkei, denen er jeden Monat bis zu 400 Euro schickte. Hohe Ausgaben für den Familienvater, die seinen Dispokredit wachsen ließen – genau wie seine Probleme.

    Bis Adem Wut über die Bequemlichkeit der Großfamilie überkam. Er stellte die Zahlungen ein. Für seine Frau hatte die Ehe damit ihre Grundlage verloren. Sie trennte sich von ihm und ließ ihn allein mit den drei Kindern zurück. Erst am Telefon und viele Hundert Kilometer entfernt in der Türkei traute sie sich zu sagen, was sie von ihm dachte: Dass er ihren Respekt verloren habe, dass er ein Versager sei, der nicht einmal genug Geld verdienen könne.

    Eines Tages war auch die älteste Tochter verschwunden. „Ich wollte sie von der Schule holen, doch sie war nicht mehr da.“ Eine Entführung durch die Mutter in die Türkei – der vorläufige Höhepunkt eines Ehedramas. Doch Adems Frau ging noch weiter. Sie verletzte ihn dort, wo es ihn am meisten schmerzte: bei seiner Ehre als Mann. Um auch das Sorgerecht für die beiden anderen Kinder zu erhalten, schrieb sie dem Jugendamt einen Brief, in dem stand, er habe die gemeinsame Tochter geschlagen und missbraucht. Adem fühlte sich machtlos. Warum sollte ihm jetzt noch jemand Glauben schenken? Er glaubte nun, von niemandem mehr unterstützt zu werden.

    Seine Gefühle zu beschreiben, fällt Adem schwer, er sagt: „Wenn Kazim Erdogan nicht gewesen wäre – vielleicht hätte ich sie umgebracht.“ Der Psychologe kannte die Fälle, in denen es tatsächlich zu einem Ehrenmord gekommen war. Er wusste, wie schnell die Lage eskalieren konnte, wenn verletzter Stolz und verletzte Ehre im Spiel waren. Er erklärte Adem, dass er seine Ehre auch durch das deutsche Rechtssystem wiederherstellen kann. Als Adem seiner Frau vor Gericht wiederbegegnete, verschränkte er seine Arme hinter dem Rücken. Den Streit um das Sorgerecht vor Gericht hat er gewonnen.

    Ismets Ehe war ein Missverständnis, ein Versehen. Man könnte es auch anders nennen: eine Zwangsheirat.
    (…)
    Quelle:

  • Schleichende Osterweiterung

    Schleichende Osterweiterung

    Schleichende Osterweiterung

    Aufgrund vager Verbindungen zu Mitgliedsstaaten können fünf Millionen Moldawier, Mazedonier, Serben, Ukrainer und Türken EU-Bürger werden
    von Sascha Lehnartz

    Paris – Die Europäische Union erweitert sich auf dem Schleichweg. Immer mehr Bürger europäischer Staaten, die nicht der EU angehören, finden Mittel und Wege, bereits jetzt EU-Bürger zu werden – indem sie sich der Heimat ihrer Vorfahren entsinnen und entsprechende Pässe beantragen.

    Gleich drei osteuropäische Grenzstaaten – Ungarn, Rumänien und Bulgarien – verfügen über großzügige Regelungen, die es vor allem den Bewohnern ehemaliger Teile ihres Staatsgebietes erleichtern, einen europäischen Pass zu beantragen. Besonders attraktiv erscheint diese Möglichkeit für Moldawier, Mazedonier, Serben, Ukrainer und Türken. Nach einem Bericht der französischen Zeitung „Le Figaro“ haben bis zu fünf Millionen Bürger dieser Länder theoretisch Anspruch auf eine EU-Staatsbürgerschaft.

    Den Weg dorthin hat beispielsweise das ungarische Parlament mit einem Gesetz geebnet, das die konservative Regierung unter Premierminister Viktor Orbán am 26. Mai unter Zustimmung der rechtsextremen Jobbik-Partei verabschiedete. Demnach können bis zu 3,5 Millionen Nichtungarn mit eher vagen Verbindungen zu ehemals ungarischen Gebieten darauf hoffen, künftig auch die ungarische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Das Königreich Ungarn hatte nach dem Zerfall der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Trianon im Jahr 1920 zwei Drittel seines Territoriums und die Hälfte seiner Bevölkerung eingebüßt. In den Genuss der Rückholaktion kämen heute rund 300 000 Serben in der ehemals ungarischen Vojvodina sowie 150 000 Ukrainer mit ungarischen Wurzeln.

    In Rumänien leben heute rund 1,5 Millionen historische Teilzeitungarn, weitere 520 000 sind es in der Slowakei. Diese beiden Länder sind zwar bereits EU-Staaten, die Abwerbung ihrer Bürger stimmt die dortigen Regierungen dennoch nicht eben froh. Das Parlament in Bratislava hat bereits ein Gesetz eingebracht, nachdem jeder Bürger, der die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt, die slowakische zurückgeben muss.

    In Rumänien dagegen reagiert man auf die ungarische Initiative bislang eher zurückhaltend. Zum einen, weil man die ungarische Minderheit der Szekler im östlichen Siebenbürgen nicht unnötig reizen will, die gelegentlich etwas lauter von Autonomie träumt. Andererseits hat Rumänien selbst eine ähnliche Regelung erlassen, die es den Nachbarn im bettelarmen Moldawien ermöglicht, einen rumänischen Pass zu beantragen. Der rumänische Präsident Traian Basescu hatte im April 2009 entschieden, so ziemlich allen Moldawiern die rumänische Staatsangehörigkeit zu gewähren, die dies wünschen. „Unsere Blutsverbindungen verpflichten uns zu helfen“, sagte Basescu. 120 000 Moldawier haben bereits einen rumänischen Pass, weitere 800 000 sollen einen beantragt haben. Auf das schwächelnde Moldawien mit seiner komplizierten Geschichte wirkt dieser Aderlass destabilisierend. Von den derzeit noch anwesenden rund vier Millionen Moldawiern spricht etwa ein Drittel Russisch, zwei Drittel sprechen Rumänisch. Auch Bulgarien hat mittlerweile Maßnahmen zur Repatriierung seiner rund 2,5 Millionen Auslandsbulgaren ergriffen. Wer seine bulgarischen Wurzeln nachweisen kann, erhält aus Sofia einen Pass. Attraktiv ist dieses Angebot vor allem für Ukrainer, Moldawier, Albaner, Türken und Mazedonier. Bei letzteren wird die Zahl der mit Bulgarien verbandelten auf 1,4 Millionen geschätzt – das sind drei Viertel der Bevölkerung Mazedoniens. Die meisten Bulgaren halten die Sprache der Mazedonier ohnehin für einen bulgarischen Dialekt. Mit relativ offenen Armen empfängt Sofia auch die Pomaken, eine islamische Minderheit, deren Angehörige in den Achtzigerjahren oft vor Verfolgungen in die Türkei geflüchtet waren. Dort schätzt man ihre Zahl heute auf 350 000. Sie kämen nun schneller in die EU, wenn sie einen bulgarischen Pass beantragten, als wenn sie darauf warteten, dass die Türkei aufgenommen wird.
    Quelle:

    Osterweiterung.html