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  • Der deutsche Integrationspräsident

    Der deutsche Integrationspräsident

    Christian Wulff entfernt sich erstaunlich schnell von seiner Partei. Nirgendwo wird dies deutlicher als auf seiner Reise in die Türkei.

    Wenn man die Unionspolitiker inklusive der Kanzlerin so reden hört, dann ist es eine Erholung, Christian Wulff zuzuhören. Auch hier in der Türkei. Es ist der dritte Besuch des Bundespräsidenten im Ausland, und den stattet er jenem Land ab, aus dem die meisten Einwanderer in Deutschland kommen. Das sieht nach einem ersten Programm seiner Amtszeit aus.

    Erst seine Rede zum Einheitstag, in der er den Islam als Teil der deutschen Realität anerkannte, dann seine Distanzierung vom Türken-Bashing der Union, nun seine Reise in die Türkei. Eine Linie wird erkennbar. Die türkische Presse hat es ihm vorab gedankt, nennt ihn den „Muslim Wulff“ (Taraf), bringt ihn mit einem Interview auf der ersten Seite (Hürriyet) und fast alle drucken das Magazin Focus nach, das Wulff mit Fes und Schnauzbart zeigt.

    Vor dem türkischen Parlament hat Christian Wulff am Dienstagnachmittag eine Rede gehalten, die ihm im Parlament wenig Applaus, aber trotzdem viel Anerkennung unter den Türken eingetragen hat. So wie er in Deutschland das Recht der Muslime betont, gleichberechtigte Bürger zu sein, hat er in Ankara an die Rechte der Christen erinnert. Um die steht es in der Türkei trotz netter Worte der AKP-Regierung nicht so gut. Wulffs Aufruf, die Aussöhnung mit Armenien voranzutreiben, hat die Nationalisten im Parlament gestört. Aber auch dieser lag ganz auf Wulffs Linie. Er konzentriert sich auf Ausgleich statt Polarisierung – ganz im Gegensatz zur Linie der Unionsführung, die mit einer imaginären Konkurrenz von rechts um die Stammtische kämpft.

    Fangen wir mit Multikulti an. Wulff sagte vor dem türkischen Parlament, dass die Einwanderer türkischer Herkunft in Deutschland „in beiden Kulturen zu Hause“ seien. „Sie gehören zu unserem Land.“ Das passt und sitzt. Migranten, das liegt in der Natur der Sache, werden von mehr als einer Kultur geprägt.

    Ist Multikulti also „tot“? Hier liegt das Missverständnis von Angela Merkel und Horst Seehofer. Multikulti ist nicht der „gescheiterte Versuch“ einer Gesellschaft, in einem Kessel Buntes harmonisch zusammen zu leben. Das wurde in Deutschland nie versucht. Und es hätte wohl auch keine Aussicht gehabt. Die friedlichen Beispiele in den Vielvölkerstaaten Europas bis 1918 waren keine harmonischen Kuschelübungen. Man lebte nebeneinander her, ignorierte sich oft. Aber man akzeptierte, wenn es gut ging, dass man als Bürger eines Staates in mehreren Kulturen zu Hause sein kann, und dass das niemand verstecken muss.

    Womit wir gleich beim zweiten Thema sind. Wulff sagte in Ankara, „niemand muss und soll seine kulturelle Identität aufgeben oder seine Herkunft verleugnen“. Es gehe darum, die Regeln und Gesetze zu achten und zu schützen.

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    Türkei | Integration | Einwanderung | Christian Wulff | CDU | CSU

    Diesen Satz sollten sich die Kulturkämpfer merken. Deutschland und Europa beruhen nämlich nicht auf der Lüge einer „judäo-christlichen“ Tradition, die es in dieser geheuchelten Eintracht weder vor noch nach Auschwitz je gegeben hat. Sie folgen nicht der Weisung von Priestern und Politikern, die uns ein „christliches Menschenbild“ vorstanzen. Deutschland und Europa gründen auf einer säkularen Rechtsordnung. Glaube ist Privatsache, dessen Inhalte man sich als gläubiger Bürger ungern von oben soufflieren lässt. Das Spitzenpersonal der Union erinnert in seiner Verzweiflung über sinkende Umfragewerte bald an islamische Fundamentalisten, die auf Teufel komm raus Politik, Tradition und Religion verschmelzen wollen.

    Damit kommen wir zur letzten These, welche in der Union gern vor Wahlkämpfen und Sonntagsfragen entstaubt wird: Die Türkei als muslimischer Staat mit „fremder“ Tradition gehöre nicht zu Europa. Christian Wulff hat vor dem türkischen Parlament die Vertragsgrundlage der EU-Türkei-Verhandlungen noch einmal gerade gerückt: „Wir halten an der Entscheidung fest, die Beitrittsverhandlungen in einer fairen und ergebnisoffenen Weise zu führen.“

    Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Keine Erniedrigungen namens „privilegierter“ Partnerschaft, keine Versprechungen, die nicht zu halten sind, keine Bierhaus-Pöbelei, die dem deutschen Stammtisch gefällt und die Türken verschreckt. Wenn die Türkei irgendwann einmal alle nötigen europäischen Rechtsgrundsätze übernommen hat, wäre sie reif für den Beitritt, so sie ihn denn dann noch will.

    Christian Wulff entfernt sich als Bundespräsident mit erstaunlicher Geschwindigkeit von seinen Parteikollegen. Das liegt mehr an der Union als an ihm. Horst Seehofer, aber auch Angela Merkel versuchen, ihre schwindenden Wähler über die Türkenfrage zurückzuholen. Es wird ihnen nicht gelingen, weil sie keine positive Vision zu bieten haben. Im Gegensatz zu ihnen erarbeitet sich Wulff – wenn es gut läuft – die Chance, mehr als eine Fußnote im Geschichtsbuch zu hinterlassen. Als deutscher Integrationspräsident.

    • QUELLE: ZEIT ONLINE
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  • Wulff spricht vor dem türkischen Parlament

    Wulff spricht vor dem türkischen Parlament

    Germany's President Christian Wulff addresses the Turkish parliament in Ankara on October 19, 2010, as Turkey's Prime Minister Tayyip Erdogan (2nd R) and his ministers listen.  Germany's president urged Turks and Germans Tuesday to see they "are closely connected" as he sought to ease a simmering debate on whether Berlin had failed in efforts to integrate Muslim immigrants. AFP PHOTO / ADEM ALTAN
    Germany's President Christian Wulff addresses the Turkish parliament in Ankara on October 19, 2010, as Turkey's Prime Minister Tayyip Erdogan (2nd R) and his ministers listen. Germany's president urged Turks and Germans Tuesday to see they "are closely connected" as he sought to ease a simmering debate on whether Berlin had failed in efforts to integrate Muslim immigrants. AFP PHOTO / ADEM ALTAN

    Der 19. Oktober ist ein historischer Tag in den deutsch-türkischen Beziehungen: Bundespräsident Christian Wulff hat als erster deutscher Staatschef eine Rede vor dem türkischen Parlament gehalten.

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  • Wulff kritisiert türkisches „Macho-Gehabe“

    Wulff kritisiert türkisches „Macho-Gehabe“

    Christian Wulff gestern bei seiner Rede im Parlament in Ankara. Er ist der erste Bundespräsident, der vor den türkischen Abgeordneten gesprochen hat. Foto: dpa/DPA
    Christian Wulff gestern bei seiner Rede im Parlament in Ankara. Er ist der erste Bundespräsident, der vor den türkischen Abgeordneten gesprochen hat. Foto: dpa/DPA

    Staatsbesuches veröffentlichte die Zeitung „Hürriyet“ gestern ein Interview mit Christian Wulff. Darin würdigt er die Reformen unter Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei. Am Vormittag, noch vor der Begrüßung mit militärischen Ehren, besucht Wulff in Ankara das Atatürk-Mausoleum. Er legt einen Kranz nieder – und verharrt anschließend schweigend vor dem gewaltigen marmornen Sarkophag. Soldaten geleiten das deutsche Staatsoberhaupt zum Gedenkbuch für Atatürk. „Er war Schöpfer der modernen Türkei und Wegbereiter nach Europa“, trägt Wulff in das Buch ein. Er würdigt Atatürks Werk „in Hochachtung“.

    Lob und Ehrerbietung für Atatürk, den Vorkämpfer des Laizismus und den Gründer der säkularen Türkei, kommen indes ein wenig seltsam daher während dieses Staatsbesuchs. So sehr sich Deutsche und Türken in den vergangenen Jahrzehnten stets hinter Atatürk und dessen Verdiensten versammelt haben, so überholt erscheint heute die beschworene Trennung von Staat und Kirche. Die Religion ist aus ihrer Nische herausgetreten. Zuweilen erscheint sie als das wichtigste Thema zwischen beiden Staaten. Ausgerechnet heute, zur Begrüßung Wulffs, schreitet Hayrünnisa Gül, die Ehefrau des türkischen Staatspräsidenten, die militärische Ehrenformation mit einem Kopftuch ab. Aus laizistischer Sicht begeht die Ehefrau des ersten Mannes im Staate einen Traditionsbruch. Die Kemalisten sind der Ansicht, das Kopftuch habe im öffentlichen Raum nichts verloren. Hayrünnisa Güls Bekenntnis dürfte deshalb in der Türkei Wellen schlagen.

    Doch die Religion erfährt nicht nur über das Kopftuch Aufmerksamkeit. Auch der Bundespräsident widmet Islam und Christentum allerlei Platz. Sein Wort vom 3. Oktober, wonach der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre, ist in der Türkei positiv registriert worden. Und so wie Wulff, etwas simplifizierend, in seiner Bremer Rede sagte, Christentum, Judentum und Islam gehörten zu Deutschland, so konstatierte er gestern in Ankara: „Vielleicht wissen wir zu wenig von den Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Weltreligionen.“ Wulff also gibt eine Art Nathan den Weisen des 21. Jahrhunderts ab. Er wirbt für Toleranz wie einst Gotthold Ephraim Lessing in der berühmten Ringparabel. Einen „echten“ Ring, eine „echte“ Religion, gibt es für Christian Wulff nicht. Das ist für manch einstigen Parteifreund starker Tobak. Wenngleich es wohl Wulff amüsieren dürfte, dass konservativ-klerikal argumentierende Landsleute zwar den Islam für seine Rückständigkeit attackieren, aber ebenso fremdeln mit einer Frau an der Spitze von CDU und Regierung. Zumal es sich gar um eine kinderlose Protestantin handelt! Ein solches Denken liegt dem westdeutschen, einstigen CDU-Politiker Wulff fern.

    Den Religionen widmet sich Wulff auch, als er zu seiner Rede vor der türkischen Nationalversammlung ansetzt. Nicht einmal jeder zweite orangefarbene Sessel im Parlament zu Ankara ist besetzt. Nur sehr gemächlich erheben sich die Abgeordneten, während der Bundespräsident den Saal betritt – und wieder, als er ihn 22 Minuten später verlässt. Wulff ist der erste Bundespräsident, der hier spricht. Während der Rede klingeln allerlei Mobiltelefone. Wie üblich eilt Wulff so schnell durch sein Manuskript, dass er manch klugen Gedanken unter Wert verkauft. Nur an einer Stelle bleibt Raum für einen Zwischenapplaus, als er der Türkei dankt, von den Nationalsozialisten verfolgte Deutsche aufgenommen zu haben.

    Zur Beruhigung im eigenen Land benennt der Bundespräsident in Ankara Probleme etwas prägnanter, als er es am 3. Oktober tat. Über „Verharren in Staatshilfe“ und „Machogehabe“ klagt er, mit dem Zusatz, dies gebe es nicht nur bei Einwanderern. Von „multikulturellen Illusionen“ spricht Wulff, bezieht diese aber, rhetorisch geschickt, auf die Vergangenheit. Er scheut sich nicht, ausgerechnet seinen stark kritisierten Satz vom Islam zu paraphrasieren, indem er heute feststellt: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei.“ Wulff lässt aber ebenso unerwähnt, dass der Apostel Paulus auf heute türkischem Boden, in Tarsus, geboren wurde. Die christlichen Wurzeln der heutigen Türkei liegen auf der Hand. Konstantinopel galt als das östliche Rom. Die Türkei war christlich, bevor sie von den Muslimen erobert wurde. Die Christen wurden hier verfolgt und vertrieben.

    In Tarsus werde er, kündigt Wulff an, morgen einen ökumenischen Gottesdienst mitfeiern. Die dortige Paulus-Kirche ist ein Museum, soll aber wieder zur Kirche werden. „Wir erwarten“, sagt Wulff selbstgewiss, „dass Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht haben, ihren Glauben öffentlich zu leben, ihren eigenen theologischen Nachwuchs auszubilden und Kirchen zu bauen.“ Den Kemalisten gefällt solch ein Satz nicht. Doch auch in Deutschland, in der traditionell kirchenfernen FDP, dürfte Wulffs Akzent auf dem Religiösen nicht auf Beifall stoßen.

    Bei all seinen Sätzen zu Christen und Muslimen, zu Kirchen und Moscheen spricht Wulff am Ende seiner Rede von seiner Hoffnung auf eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert. „Frieden im Lande und Frieden in der Welt“, beendet er seine Rede mit einem Zitat. Erst auf Deutsch, dann auf Türkisch. Das Zitat stammt von – Mustafa Kemal Atatürk.

  • Das türkische Parlament

    Das türkische Parlament

    Die Große Türkische Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi) – das türkische Parlament – besteht aus 550 Abgeordneten. Sie werden für vier Jahre vom Volk gewählt.

    Bürger ab 18 Jahren sind wahlberechtigt und auch wahlpflichtig, Kandidaten müssen aber mindestens 30 Jahre alt sein. Für den Einzug ins Parlament gilt eine Zehn-Prozent-Hürde. Das ist europaweit die höchste Sperrklausel. Kandidaten, deren Parteien die zehn Prozent nicht schaffen, werden auch nicht berücksichtigt.

    Parteien können sich aber zu Bündnissen zusammenschließen. Derzeit hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit 337 Sitzen die absolute Mehrheit.

    Das erste Parlament der Türkei („Generalversammlung“) nahm seine Arbeit 1877 auf. Am 29. Oktober 1923 rief Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (Vater der Türken), die Republik aus. Im Zuge weiterer Reformen wurde in der Türkei 1930 das aktive Frauenwahlrecht eingeführt, und seit 1934 dürfen sich Frauen auch selbst zur Wahl stellen. 1960 und 1980 putschte das Militär gegen die Regierung. Seine Macht wird zunehmend eingeschränkt.

  • Muslime in Deutschland loben Rede

    Muslime in Deutschland loben Rede

    Die Rede von Bundespräsident Christian Wulff vor dem türkischen Parlament ist auf positive Resonanz beim Zentralrat der Muslime in Deutschland gestoßen. Der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung würdigte, dass Wulff Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Türken betone.

    Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat positiv auf die Rede von Bundespräsident Christian Wulff vor dem türkischen Parlament in Ankara reagiert. Wie die WAZ-Mediengruppe (Mittwochausgabe) berichtet, lobte der Vorsitzende Aiman Mazyek die Worte Wulffs als „klug gewählt“. Mazyek verglich die Integrationsdebatte in Deutschland mit der um religiöse Minderheiten in der Türkei: „Genau so, wie in der Türkei Christen von Ultra-Nationalisten als Gefahr für die Einheit des Landes betrachtet werden, sehen Rechte in Deutschland hinter jedem Muslim den Untergang des christlichen Abendlandes.“

    Der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, Haci Halil Uslucan, würdigte, dass Wulff Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Türken betone, statt „unnötige Distanzen zwischen Mehrheit und Minderheit entstehen zu lassen“.

    Focus