50 Jahre Anwerberabkommen mit der Türkei – Rede von Memet Kilic, MdB – 26.10.2011
Plenarrede von Memet Kilic, MdB (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Thema: 50 Jahre Anwerberabkommen mit der Türkei – 26. Oktober 2011
Plenarrede von Memet Kilic, MdB (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Thema: 50 Jahre Anwerberabkommen mit der Türkei – 26. Oktober 2011
Er kann es nicht lassen. Kaum hatte es Thilo Sarrazin schriftlich, dass er Sozialdemokrat bleiben darf, holte er wieder den Knüppel raus. Eine Migranten-Quote? Alles Quark, ätzte Sarrazin vergangene Woche bei einem Auftritt in Waltrop, Ruhrgebiet. „Je migrantischer diese Leute eingestellt sind, desto weniger neigen sie dazu, Probleme und Schwierigkeiten objektiv zu sehen.“
Der Einzige, der die Probleme objektiv sieht, ist nach Sarrazins Meinung er selbst. Und damit das alle mitbekommen, wiederholte er just jene Thesen, denen er in einer Erklärung vor dem SPD-Schiedsgericht in Berlin-Charlottenburg abgeschworen hatte. Wer die Erblichkeit von Intelligenz leugne, sei „strohdumm oder auf kriminelle Weise denkfaul“, sagte er. Von den Aussagen seines Buches habe er nie ein Wort zurückgenommen.
Jede Partei hat ihre Querulanten, die lustvoll die Führungsspitze attackieren. Wolfgang Kubicki (FDP), Jutta Ditfurth (Ex-Grüne), bei den Linken sind sie kaum noch zu zählen. Der Fall Sarrazin ist jedoch ein besonderer, denn er beeinträchtig das Verhältnis von Migranten zu den deutschen Parteien generell und zur SPD im besonderen.
Migranten sehen Cem Özdemir als Kanzler
Knapp 20 Prozent der deutschen Bevölkerung hat Migrationshintergrund, zirka 5,6 Millionen von ihnen sind wahlberechtigt. Tendenz: steigend. Stark steigend. Wer diese Gruppe dauerhaft auf seine Seite zieht, hat bei Wahlen einen immensen Vorteil. Bislang neigten mit Menschen mit Migrationshintergrund meist der SPD zu. Aber das war vor Sarrazin. Und in der K-Frage liegen die Grünen schon vorne. Könnten Migranten den Kanzler direkt wählen, würden sie, wen überrascht’s, Cem Özdemir die Stimme geben.
Parteichef Sigmar Gabriel warf am Montag seines ganzes politisches Gewicht in die Waagschale, um die Migranten-Quote – 15 Prozent in allen bundespolitischen Gremien – im Parteivorstand durchzusetzen. Es gehe um die Glaubwürdigkeit der SPD in Zuwandererkreisen, sagte Gabriel laut „Süddeutsche Zeitung“. Diese Glaubwürdigkeit liegt in der Tat in Trümmern. Weil der Sozialdemokrat Sarrazin schlimmer als jeder Konservative gegen Migranten aufwiegelte. Weil er dann auch noch in der Partei bleiben durfte. Und weil die Quote aussieht wie eine hektische, Sympathie heischende Wiedergutmachung. Mehmet Tanriverdi, Chef der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, der wegen Sarrazin die SPD unter Protest verließ, sagte stern.de, eine solche Regelung bringe gar nichts.
Warum keine Quote für Schwule und Lesben?
So sieht es auch Mehmet Kilic, Sprecher für Migrations- und Integrationspolitik der Grünen. „Ich bin gegen eine Quote, auch deshalb, weil man dann für alle möglichen Gruppen eine Quote einführen müsste: Warum nicht auch für Schwule und Lesben?“ Im Übrigen handele es sich um eine Art positiver Diskriminierung, die auf wenig Gegenliebe stoße. „Immigranten wünschen sich, dass sie irgendwann nicht mehr als Immigranten gesehen werden“, sagt Kilic zu stern.de.
Ein Beispiel dafür ist offenbar die CDU-Politikerin Michaela Noll. Sie ist in Deutschland geboren, hat aber einen iranischen Vater und damit Migrationshintergrund – ein Alleinstellungsmerkmal in der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Noll, von stern.de mehrfach zum Thema angefragt, äußerte sich nicht. Cem Özdemir, Parteichef der Grünen, der „anatolische Schwabe“, spricht gelegentlich über seine Herkunft – aber auch er ist sorgfältig darauf bedacht, sich nicht auf dieses Thema einengen zu lassen.
Parteien – eine andere Welt für Migranten
Die Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund ist, im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil, geradezu armselig. Bei den Grünen gibt es 6 Abgeordnete mit Migrationshintergund, bei den Linken ebenfalls 6, die SPD hat 5, die FDP 2, die Union 1, nämlich Michaela Noll. Zusammen genommen sind es 20 – bei insgesamt 622 Sitzen im Parlament. Und es sieht nicht so aus, als würde sich an diesem Verhältnis rasch etwas ändern.
„Die deutschen Parteien sind für Migranten sozusagen eine andere Welt. Es gibt eine psychologische Hemmschwelle, sich dort zu engagieren“, sagt Kilic. Weit verbreitet ist das Gefühl der Ausgrenzung – was durch aktuelle Debatten, sei es um Sarrazin oder den EU-Beitritt der Türkei noch befeuert wird. „Es gibt aber auch Defizite auf Migrantenseite“, sagt Kilic. „Die Leute müssen auch die Bereitschaft mitbringen, für ihre Ideale zu kämpfen.“ Sprich: Sich auf die Ochsentour in den Parteien einzulassen.
Gabriel will die Ochsentour – aus eigennützigen Gründen – durch eine Vorfahrtsstraße ersetzen. Ein Parteitag soll die Quote noch abnicken. Ob sie etwas bringt, ob sich überhaupt genügend Kandidaten finden? „Wir sprechen uns in zwei Jahren wieder“, sagt Kilic.
via Wähler mit Mitgrationshintergrund: SPD im Sarrazin-Trauma – Politik | STERN.DE.
Zur heute veröffentlichten Studie der Bertelsmann Stiftung, in der Deutschland Reformbedarf bei sozialer Gerechtigkeit, Integration und Bildung attestiert wurde, erklärt Memet Kilic, Sprecher für Integrations- und Migrationspolitik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Der 21. Platz von 31 OECD-Staaten ist für die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung ein Schlag ins Gesicht. Dieses schlechte Ergebnis ist ein Beleg für die miserable Arbeit von Frau Böhmer. Nur schöne Worte und ein nettes Lächeln bringen uns in der Integrationspolitik nicht weiter. Es ist höchste Zeit zu Handeln.
Unsere Forderungen nach vereinfachter Einbürgerung, einem besseren Bildungssystem und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt werden von der Regierung einfach ignoriert. Menschen mit Migrationsgeschichte muss der Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt deutlich vereinfacht werden. Die Konzeptlosigkeit der Regierung auf diesem Gebiet ist eines ihrer Markenzeichen geworden.
Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik beeinflussen sich gegenseitig. Die schwache Entwicklung der BRD auf diesen Gebieten macht es deutlich, dass die Politik der Ignoranz gescheitert ist.
Memet Kilic – ist im Bundestag
via Memet Kilic – ist im Bundestag: PM: Böhmer muss nachsitzen.
Protokoll der Plenarrede vom 07.10.2010
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar erneut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestellten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und gerade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolgerungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideen- und Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprachrohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden Debatte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kürzungen bei den Integrationskursen vorgenommen werden. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durchgeführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt, dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen. Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 integrationswilligen Personen der Besuch von Deutschkursen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen getan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverantwortlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Integrationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet; 60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig. Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde, bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der Einwanderer.
Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Streichung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung.
Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbekannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als ärgerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integrationsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negatives Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht verdient, meine Damen und Herren!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Migranten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantomdebatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen.
Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen Integrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reformunwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Einbürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschärfung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehrstaatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben, und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauftragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ahnung, kein Konzept – so sieht es aus!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Versprechungen der Bundesregierung auf den diversen Integrations- und Bildungsgipfeln wert?
Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert, die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklassenschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit seiner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Hauptschule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminierung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate Lösungsvorschläge zu entwickeln.
Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integration ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch können. Die Migrantenkinder der dritten Generation haben ein Studium an einer der Universitäten dieses Landes absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu fahren.
Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öffentliche Dienst; das muss sich ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von 20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren schönen Worten folgen keine Taten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die Uhr.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Gerne. Die populistischen Grabenkämpfe zwischen „uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stigmatisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land; wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche demokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutschland machen, in einem besseren Europa und einer besseren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser Traum.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)