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  • „Ein Integrationskonzept fehlt noch immer“

    „Ein Integrationskonzept fehlt noch immer“

    Migrationsexperte Heinz Fassmann im Interview über das Scheitern des Multikulti-Ansatzes, FPÖ-wählende Nowotnys und die Türkei.

    DiePresse.com: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte kürzlich den Multikulti-Ansatz für gescheitert. Würden Sie zustimmen?

    Heinz Fassmann: Der Multikuliti-Ansatz in seiner verklärten Vision einer Koexistenz, ohne aufeinander zuzugehen, ist mit Sicherheit gescheitert, auch in Österreich. Wir haben mittlerweile eingesehen, dass wir uns trotz kultureller Vielfalt auf ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten einigen müssen.

    Ausgelöst hatte die Debatte das Buch von Thilo Sarrazin. Haben Sie es gelesen?

    Ich habe Auszüge davon gelesen. Der analytische Teil des Buchs ist sicher ernsthaft zu diskutieren. Bei einer grundsätzlichen Sichtweise bin ich unzufrieden: Ein Ausländer bleibt bei Sarrazin immer Ausländer, auch in der zweiten und dritten Generation, deshalb kommt er dann zu sehr bedrohlichen Zahlen, bis sich Deutschland dann eben letztlich abschafft. Er berücksichtigt nicht die gesellschaftliche Dynamik. Er greift dann auch zur Fiktion, das ist wissenschaftlich wenig seriös.

    Sarrazin vermeldete auch, dass „Muslime eine unterdurchschnittliche Beteiligung am Arbeitsmarkt“ haben. Trifft diese Aussage auch für Österreich zu?

    Ja, das liegt vor allem an der geringen Erwerbsquote türkischer Frauen, die durch den Familiennachzug nach Österreich gekommen sind. Das hat mit einer starken Orientierung der Frauen auf Haus und Herd zu tun. Und diese wiederum hat etwas mit Sprachkompetenzen zu tun, aber auch mit einem Familienbild, das wir eigentlich schon vor zwanzig, dreißig Jahren abgelegt haben. Das sorgt dann auch für Skepsis.

    Welche Rolle spielt die Religion selbst bei der Integrationsfähigkeit?

    Man sollte die Religionen nicht stigmatisieren. Es geht eher um Traditionen. Es ist eine verkürzte Debatte zu sagen: Jetzt ist der Islam an allem Schuld. Statt den Generalverdacht auf eine Religion zu lenken, sollte man die Dinge beim Namen nennen, zum Beispiel: Uns stört aus gesellschaftspolitischen Gründen die geringe Frauenerwerbsquote oder eine gewisse Macho-Kultur.

    Laut einer GFK-Studie fühlen sich zwei Drittel der türkisch-stämmigen Bürger eher der Türkei als Österreich zugehörig, eine Mehrheit lehnt die österreichische Lebensweise ab. Woran liegt das?

    In der gleichen GFK-Studie zeigt sich aber auch, dass sich rund zwei Drittel der Türken hier sehr oder eher wohl fühlen. Es stimmt aber, dass es zu türkischen Zuwandern eine größere soziale und kulturelle Distanz gibt, die im tagtäglichen Leben spürbar ist. Das ist keine Konstruktion. Ein Grund ist vielleicht, dass die Türken ein sehr ausgeprägtes Nationalbewusstsein besitzen, dass sie nur zögerlich und ungern in ein anderes Nationalbewusstsein eintreten lässt. Das wird auch manchmal von der türkischen Politik unterstützt. Wenn zum Beispiel der türkische Premier Erdogan sagt, dass Assimilation eine Sünde ist, dann ist das eine klare Aussage: Ihr bleibt immer Teil unserer Volksgemeinschaft.

    Warum wurde die Integrationspolitik in Österreich lange verschlafen?

    Es war lange Zeit einfach kein Thema. Als die ersten Gastarbeiter kamen, ging man von einer Art Saisonarbeit aus, dass die Menschen kommen und wenn die Nachfrage am Arbeitsmarkt nachlässt, wieder gehen. Die Politik hat lange gebraucht, um zu bemerken, dass Menschen auch hier bleiben, diese Schrecksekunde hat von Anfang der Sechziger bis Anfang des neuen Jahrtausends gedauert, als mit der Integrationsvereinbarung die allererste Maßnahme gesetzt wurde. Bis dahin wurden aber zwei Generationen gar nicht mit integrationspolitischen Maßnahmen behelligt – mit dem Erfolg, den wir eben haben.

    Jetzt soll die Rot-Weiß-Rot-Card die Zuwanderung aus Drittländern mit einem Punktesystem regeln. Ein Schritt in die richtige Richtung?

    Sicher, der große Nachteil ist aber, dass nur ein kleiner Teil der Zuwanderung dadurch gesteuert werden kann. Und die Maßnahme ist nur ein kleiner Baustein im Bereich eines gesamthaften Migrations- und Intergrationskonzepts, das noch immer fehlt.

    Warum fehlt es noch immer?

    Es ist wenig Raum für eine parteipolitisch neutrale, sachpolitische Diskussion. Standpunkte einer rationalen Mitte sind relativ selten. Diese Situation ist in Österreich augeprägter als in Deutschland und hängt auch mit unserer Parteienlandschaft zusammen. Für die FPÖ ist das Zuwandererthema das einzige Thema, zu dem sie eine pointierte Meinung hat. Auch für die Grünen ist es ein ganz wichtiges Thema mit einer ganz anderen pointierten Meinung.

    Sie sind mit dem Niveau der Debatte also nicht glücklich?

    Ja, aber mein persönliches Befinden ist nicht wichtig.

    Was stört sie inhaltlich?

    Wenn ich einen Appell frei hätte, würde ich die Politiker bitten, geduldiger zu sein. Kaum ist gesetzlich implementiert, dass bestimmte Zuwanderer bevor sie kommen, Deutsch lernen sollen, wollen manche schon eine Verschärfung dieser Maßnahme. Man muss sich einmal anschauen, was ist der Erfolg einer Maßnahme, bevor man zur nächsten schreitet. Obwohl Sprache natürlich ein Schlüssel zur gesellschaftlichen Emanzipation ist, heißt Integration immer auch „Learning by doing“ und diese Lernprozesse brauchen eben auch Zeit. Die teils hektische Vorschläge nach FPÖ-Wahlkampferfolgen sind langfristig nicht haltbar.

    Aber müssen die Großparteien nicht auf die FPÖ-Wahlerfolge reagieren? In Simmering kamen die Freiheitlichen auf 35,5 Prozent…

    Der politische Aktionismus wird langfristig nicht die Erfolge zeigen, die erwartet werden. Und Simmering ist einer der Bezirke mit einem eher geringen Ausländeranteil. Ich finde, Wien hat unterm Strich eine vernünftige Politik gemacht und auch viel Geld investiert, etwa in den Bereich des Wohnbaus und der Aufwertung von Stadtteilen.

    Trotzdem erklärte Salzburgs SPÖ-Landeshauptfrau Gabi Burgstaller nach der Wahlpleite in Wien, dass die Sozialdemokraten in die „Ghettos“ gehen müssen. Also gibt es doch Ghettos?

    Es gibt keine Ghettos, ich sehe auch keine offenen Konflikte im Stadtteilbereich wie etwa in Paris oder Berlin. Auch der Grad der Segregation ist im Vergleich zu anderen Großstädten in Wien deutlich geringer. Es gibt aber das Raunzen, das ist keine Frage.

    Also ist das Raunzen unberechtigt?

    Nein, es gibt einen Punkt, den ich immer bei den Kollegen kritisiere: Man lebt in einem ethnisch homogenen Wohnviertel der sozialen Oberschicht und gibt dann anderen Ratschläge, wie fremdenfreundlich sie sein sollen. Diesen Zynismus erlaube ich mir nicht.

    Zurück zum Aktionismus: Fällt auch das von manchen geforderte Minarett-Verbot in diese Kategorie?

    Ein Minarett-Verbot wäre ein Eigentor und rechtlich ohnehin nicht haltbar. Wir haben eine freie Religionsausübung und entsprechende Infrastruktur ist zu erlauben. Man kann aber darüber reden, wie sich Minarette in ein Stadtbild einzufügen haben. Da lassen sich auch pragmatische Lösungen finden.

    Von einem Kopftuch-Verbot halten Sie dann auch wenig?

    Das ist Integrationspolitik mit der Brechstange. Da steckt die Ungeduld dahinter. Eine Studie in Deutschland zeigt, dass rund sieben Prozent der Zuwanderer einem traditionell-religiösen Milieu zuzurechnen sind. Das Problem liegt in der Wahrnehmung: Eine Frau mit Kopftuch auf der Straße impliziert, dass es alle Türkinnen tragen, während jene ohne Kopftuch in der Masse untergehen.

    Was stört sie am meisten in den Stammtisch-Debatten?

    Dass die gesellschaftliche Dynamik unterschätzt wird. Die Zuwanderer von heute sind die Bürger von morgen. Im 19. Jahrhundert lebten 40 bis 50 Prozent Menschen in Wien, die nicht in der Stadt geboren wurden – und sie kamen aus allen möglichen Teilen der Monarchie. In kurzer Zeit sind aus ihnen die Nowotnys von heute geworden, waschechte Wiener, loyale Bürger, die vielleicht heute sogar die FPÖ wählen – das ist die Pointe daran.