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  • Zur Integrations-Debatte – Der kommende Kampf

    Zur Integrations-Debatte – Der kommende Kampf

    Slavoj Zizek

    Meinungsfreiheit funktioniert nur, wenn alle den gleichen Höflichkeitsregeln folgen – sonst wandelt sich Multikulturalismus in Ignoranz und Hass. Ein Plädoyer für eine linke Leitkultur.

    Am 17. Oktober 2010 erklärte Kanzlerin Angela Merkel, dass der multikulturelle Ansatz des Zusammenlebens gescheitert sei. Nun sollte man ihr zumindest anrechnen, dass sie die konservative Linie der Debatte über eine „Leitkultur“ von vor zwei Jahren konsequent weiterführte. Diese vertrat die Ansicht, dass jeder Staat auf einem vorherrschenden Kulturraum basiert, den die Mitglieder anderer Kulturen, die dort leben, respektieren sollten.

    Boxer Firat Arslan auf einem Plakat einer am 20. Oktober vorgestellten bundesweiten Kampagne, die Einwanderer motivieren soll, Deutsch zu lernen. (© Reuters)

    Trauriger Stand der Dinge

    Anstatt nun einfach das Lamento anzustimmen, dass solche Standpunkte den neuen aufkeimenden Rassismus in Europa begleiten, sollten wir unseren kritischen Blick auf uns selbst richten und uns fragen, inwieweit unser abstrakter Multikulturalismus zu diesem traurigen Stand der Dinge geführt hat.

    Und da beginnen schon die Schwierigkeiten: Gründet sich nicht jede Praxis des Universalismus auf ein bestimmtes kulturelles Feld? Das macht die Frage nach einer verpflichtenden universellen Bildung zu so einem heiklen Thema. Liberale bestehen darauf, dass Kinder das Recht haben sollen, Teil ihrer jeweiligen Gemeinde zu bleiben, jedenfalls dann, wenn dies aus wirklich freiem Willen geschieht. Kinder der Amish in den USA sollten beispielsweise effektiv die freie Wahl haben, ob sie das Leben ihrer Eltern oder der „Englischen“ wählen. Das aber kann nur funktionieren, wenn sie sich ausreichend kundig machen können – der einzige Weg, dies zu tun, wäre also, sie aus ihrer Amish-Gemeinde herauszureißen.

    Entsprechend stößt die übliche liberale Haltung an Grenzen, wenn es um moslemische Frauen geht, die einen Schleier tragen: Sie könnten diese gerne tun, heißt es, sofern die Verschleierung ihre eigene Entscheidung sei und ihnen nicht von ihren Ehemännern und Familien aufgezwungen werde. Sobald diese Frauen den Schleier jedoch auf Grund ihres freien Willens tragen, verändert sich auch die Bedeutung des Schleiers grundlegend: Er ist dann eben nicht mehr ein Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime, sondern ein Ausdruck ihres idiosynkratischen Individualismus, ihrer spirituellen Sinnsuche und ihrer Ablehnung einer kommerzialisierten Sexualität, oder gar eine politische Geste des Protests gegen den Westen.

    Das ist auch der Grund, warum Menschen, die sich in unseren säkularen Gesellschaften einen tiefen Glauben bewahren, in einer defensiven Rolle wiederfinden.

    Extrem brutaler Vorgang

    Selbst wenn es ihnen erlaubt ist, ihrem Glauben nachzugehen, wird dieser Glaube doch nur als ihre idiosynkratische persönliche Auffassung „toleriert“. Sobald sie diesen Glauben und das, was er ihnen bedeutet, öffentlich bekunden, sobald sie eine starke religiöse Zugehörigkeit demonstrieren, werden sie des „Fundamentalismus“ bezichtigt. Das aber bedeutet, dass der „freie Wille“ im „toleranten“ multikulturellen Sinne des Westens nur als Ergebnis eines extrem brutalen Vorgangs gefunden werden kann, in dem man mit seinen eigenen Wurzeln bricht.

    via Zur Integrations-Debatte – Der kommende Kampf – Kultur – sueddeutsche.de.