Erdoğans Reform enttäuscht die christliche Minderheit in der Türkei. Jetzt regt sich offener Widerstand.
AUS DEM ARCHIV:Wie Erdoğan den Friedensprozess mit Kurden retten will (16.09.2013)Nur Schuldzuweisungen (08.09.2013)Türkei: Iftar als Ersatz-Demo gegen Erdoğan (30.07.2013)Klassenkampf in der Türkei (08.06.2013)
Istanbul. Die Erwartungen waren hoch. Über Wochen ließ die türkische Regierung die Bürger über die Medien wissen, dass das neue Paket demokratischer Reformen für viele Teile der Gesellschaft merkliche Verbesserungen bringen werde, besonders auf dem Gebiet der Religionsfreiheit. Unter den Christen der Türkei machte sich die Hoffnung breit, dass der lang erhoffte Durchbruch bei der Gleichstellung nicht muslimischer Gemeinschaften bevorstehen könnte.
Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht. Eine Woche nach der Vorstellung des Reformpakets wächst bei den türkischen Christen die Kritik. Zwar erhält das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel in Südostanatolien auf der Basis von Erdoğans Ankündigungen vom 30. September jetzt Ländereien zurück. Die Rückgabe ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Existenz des aus dem vierten Jahrhundert stammenden Klosters. Doch bei anderen Problemen der kleinen christlichen Minderheit in der Türkei, die nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung in dem 76-Millionen-Land ausmacht, blieben die Reformen des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan hinter den Erwartungen zurück.
Priesterseminar geschlossen
Besonders deutlich wurde das in der Frage der Priesterausbildung für die griechisch-orthodoxe Kirche. Das orthodoxe Priesterseminar auf der Insel Halki bei Istanbul ist seit mehr als 40 Jahren geschlossen, was den Klerus im früheren Konstantinopel, dem Sitz des ökumenischen orthodoxen Patriarchats, immer weiter überaltern lässt. Nach den Andeutungen aus der Regierung in Sachen Reformpaket war ein Schritt zur Wiedereröffnung des Seminars erwartet worden – doch der blieb aus.
Erdoğan selbst erläuterte in einer Rede am Dienstag, warum das so war. Die Wiedereröffnung des Seminars an sich sei kein Problem, sagte er. Doch wenn man etwas gebe, dann wolle man dafür im Gegenzug auch etwas erhalten, sagte er. Der Premier verwies auf den bisher nicht erfolgten Bau einer Moschee in Athen und auf Probleme der türkisch-muslimischen Minderheit in Nordgriechenland.
Nehmen und Geben
Mit diesem Denken liegt der Ministerpräsident ganz auf der Line der türkischen Nationalisten: Er macht mehr Rechte für türkische Staatsbürger christlichen Glaubens von einer Besserstellung der muslimischen Minderheit in Griechenland abhängig. Religiöse Rechte der Christen werden in dieser Logik nicht als selbstverständlicher demokratischer Anspruch gesehen, sondern als Teil eines Gebens und Nehmens zum Wohle muslimischer Türken im Ausland.
Einmal mehr fühlen sich die Christen deshalb als Bürger zweiter Klasse. „Sind wir etwa Gefangene?“, fragte der armenische Journalist Hayko Bagdat am Dienstag in der Zeitung „Today’s Zaman“. Orhan Kemal Cengiz, ein auf Minderheitenrechte spezialisierter Menschenrechtsanwalt, kritisiert im selben Blatt, es sei ja gut und schön, für mehr Rechte der Muslime in Griechenland einzutreten. „Aber es geht nicht an, den eigenen Bürgern ihre Rechte vorzuenthalten.“
Nach Beobachtung von Dimitrios Triantaphyllou, eines griechischen Politologen an der Istanbuler Kadir-Has-Universität, hatte die griechische Gemeinde in der Türkei einiges von Erdoğans Reformpaket erwartet. Immerhin habe Erdoğan in den vergangenen Jahren viel für die Christen getan, sagt Triantaphyllou der „Presse“.
Die Rückgabe enteigneten Eigentums und die Erlaubnis für Gottesdienste an symbolträchtigen Orten wie dem Kloster Sümela an der türkischen Schwarzmeerküste gehörten dazu.
Stimmen der Nationalisten
Doch dann habe sich Erdoğan beim Reformpaket dafür entschieden, konservative und nationalistische Wählerkreise zu bedienen, sagt Politologe Triantaphyllou weiter. Wahrscheinlich hänge diese Entscheidung mit den bevorstehenden Wahlen im kommenden Jahr zusammen; die Türken wählen 2014 neue Kommunalparlamente und einen neuen Präsidenten. Dabei sind die Stimmen der Nationalisten für Erdoğan offenbar wichtiger als die der Christen.
Weitaus tatkräftiger als bei den Christen geht Premier Erdoğan bei anderen Glaubensfragen ans Werk. Die ebenfalls im Reformpaket angekündigte Freigabe des islamischen Kopftuchs in staatlichen Institutionen wurde am Dienstag in Kraft gesetzt.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.10.2013)
via Türkei: Christen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse « DiePresse.com.