Der Polizist Rouven Laur, noch 29 Jahre alt, starb an seinen Verletzungen. Ein Asylbewerber aus Afganistan hatte mit einem Messer mehrere Personen, darunter auch Lauer, schwer verletzt.
„Es verdichten sich die Erkenntnisse, dass es sich um eine religiös motivierte, oder, um es konkret zu sagen, um eine islamistisch-extremistisch motivierte Straftat handelt“, sagte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl. Strobl warnte: „Gerade diese Leute sind besonders gefährlich.“
Beim Gedenken an den getöteten Polizisten Laur, bezeichnete der Bundespräsident Steinmeier den Mord zurecht als „blutiger Terrorakt.“ Mich hat dieser unglaubliche Terrorakt und das Sterben eines jungen Polizisten zutiefst berührt.
Ich musste unweigerlich an die dutzenden namhaften, mir bekannten und sehr geschätzten Wissenschaftler/Innen und Journalisten, die in der Türkei ebenfalls Opfer fanatischer Islamisten wurden, weil sie sich aktiv für Demokratie, Rechtstaat, Laizismus, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei eingesetzt hatten.
Für fanatischen Islamisten ist die Tötung von für sie als „ungläubigen“ geltenden Menschen eine Art religiöser Pflicht. Dies ebnet für sie sogar den Weg zum Paradies. So auch für den afghanischen Attentäter. Das islamistische Terrorregime in Afghanistan ist hierfür ein existierendes Musterbeispiel.
Deshalb sehen wir, Millionen Menschen aus der Türkei in Deutschland und in der Türkei, die islamistischen Fundamentalisten als eine echte Gefahr für den demokratischen, sozialen und laizistischen Rechtsstaat. Der demokratischer Rechtstaat sollte sich dieser Gefahr bewusst sein und die erforderlichen rechtsstaatlichen Maßnahmen dagegen treffen.
Islamische Extremisten und Fundamentalisten führen mit ihren bestialischen Terrorakten, ihren absurden religiösen Vorstellungen und brutalen Vorgehensweisen auch dazu, dass in Deutschland und auch in allen anderen europäischen Staaten die politisch rechtsradikalen Parteien, wie die AfD in Deutschland und die Partei von Le Pen in Frankreich, einen beachtlichen Stimmenzuwachs erhalten. Dies haben wir gerade bei den Europawahlen jüngst bei allen EU-Staaten bestätig gesehen.
Wir Menschen aus der Türkei, die wir schon lange deutsche Staatsbürger sind, haben schon vor Jahrzehnten versucht, die politisch Verantwortlichen auf diese Gefahren hinzuweisen, die durch die Instrumentalisierung der Religion seitens der Vertreter des islamischen Extremismus und Fundamentalismus und derer politischer Organisationen bestehen.
In der geltenden Verfassung der Türkei steht seit 1962 in Artikel 2 als ein unveränderlicher Grundsatz: “Die türkische Republik ist ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“ Laizismus sieht die Trennung zwischen Religion und Staat. Die Religion als Privatsache darf sich nicht in Staatsangelegenheiten und in die Staatsform einmischen.
Für unsere laizistische Überzeugung ist Religion Privatangelegenheit eines jeden Menschen. Die Religion darf sich jedoch nicht für politische, wirtschaftliche und soziale Ziele im Staat instrumentalisieren lassen, wie es in der Türkei bei gewissen politischen Parteien oft der Fall ist.
Die Regierungspartei Erdogans und er selbst missbrauchen die Religion für ihre politische Arbeit und Ziele. Es ist die Instrumentalisierung der Religion, die der regierenden Partei seit 22 Jahren zu ihren Wahlsiegen verholfen hat.
Atatürks Ideen als Modell gegen Instrumentalisierung der Religion und gegen islamischen Fundamentalismus
Bei der Gründung der Republik Türkei vor über hundert Jahre, am 29. Oktober 1923, wurde das 624-jährige osmanische Sultanat, als eine Art Königreich und das „Şeyhulislam“, (Kalifat) als eine Art Papsttum der gesamten islamischen Welt, abgeschafft. Diese waren nach dem 16. Jahrhundert verantwortlich für die Rückständigkeit des Osmanischen Staates in vielen Bereichen und dessen Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Durch die Niedelage im ersten Weltkrieg wurde das Gebiet der heutigeb Türkei grösstenteils von den Siegermächten Großbritannien, Frankreich, Italien und mit deren Hilfe auch von Griechenland okkupiert und in Besatzungszonen aufgeteilt.
Um die Bedeutung von Mustafa Kemal Atatürk für die Republik Türkei zu verstehen, möchte ich hier einen Überblick über dessen Grundgedanken, die als Kemalismus bezeichnet werden, geben.
Der nationale Widerstand gegen die Besatzung der Siegermächte und die Befreiung des Landes wurde von türkischen Offizieren unter Führung Mustafa Kemals und seinen engsten Gesinnungsfreunden durchgeführt. Sie waren es, die vom 19. Mai 1919 bis zum 9. September 1922 unter Zuständigkeit der Nationalversammlung der Türkei in Ankara gegen die Besatzungsmächte einen siegreichen Befreiungskrieg organisierten und damit die Unabhängigkeit der Türkei erzielten. Am 29. Oktober 1923 erfolgte die Konstituierung und Ausrufung der Republik Türkei.
Die Nationalversammlung der Türkei wählte Mustafa Kemal, später „Atatürk“ (Vater der Türken) genannt, das Idol und die Personifikation des Befreiungs- und Unabhängigkeitskampfes, zum ersten türkischen Staatspräsidenten.
Der türkische Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieg galt in vielen kolonialisierten Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bei ihrem Kampf gegen die imperalistischen Mächte als wegweisend und ermutigend. So für Mahatma Gandhi in Indien, für den Kampf Mao Zedongs in China, für Algerier in Nord-Afrika, für Kuba in Lateinamerika. Nicht ohne Grund wird in Schulbüchern Chinas auch heute über Atatürks-Befreiungskampf berichtet.
Mustafa Kemal hatte bereits als Student französich gelernt und auf der Militärakademie die Französische Revolution und ihre Ziele intensiv studiert. Das Osmanische Reich hatte am ersten Weltkrieg als Verbündeter Deutschlands teilgenommen; für Mustafa Kemal war Deutschland also nicht fremd – er besuchte Berlin in Begleitung des Tronfolger des Sultans.
Als Gründer und erster Staatspräsident der jungen Republik Türkei führte er konsequent radikale politische, bildungspolitische, wirtschaftliche und soziale Reformen durch, um die Türkei auf allen Ebenen der Gesellschaft zu modernisieren. Zugleich strebte er mit allen Nachbarstaaten freundschaftliche Beziehungen an.
Die UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur) hat im 1979 bei ihrer Generalversammlung, bei der 156 Staaten vertreten waren, einstimmig beschlossen, das 100. Geburtsjahr Mustafa Kemal Atatürks, also das Jahr 1981, als Gedenkjahr Atatürks zu proklamieren.
Der Leitsatz dieses Beschlusses lautet wie folgt:
„Mustafa Kemal ATATÜRK war – eine überragende Persönlichkeit, die sich um die internationale Völkerverständigung und um den internationalen Frieden bemühte, – ein Revolutionär von großem Format, – der erste Staatsmann, der gegen Kolonialismus und Imperialismus kämpfte, – die Menschenrechte respektierend, – ein Vorkämpfer des Weltfriedens, – ein Staatsmann ohnegleichen, der keinen Unterschied der Farbe, der Religion und der Rasse unter Menschen machte, – der Begründer der modernen Republik Türkei.“
In der Türkei war es unter der Führung Atatürks möglich, mit revolutionären Erneuerungen und Reformen die Modernisierung und in maßgeblichen Bereichen die „Europäisierung“ des rückständigen Landes radikal voranzutreiben. Atatürks Ziel war in seinen Worten, „das Erreichen des zeitgenössischen Niveaus der zivilisierten Welt“, und das so schnell wie möglich. Innerhalb weniger Jahre erfolgte eine radikale Bildungs- und Rechtsreform, die Einführung der lateinischen Schrift, die Trennung von Staat und Religion, die als Laizismus das Fundament der Republik darstellt, die rechtliche Gleichstellung der Frau nebst dem Verbot der Polygamie sowie eine radikale Reformierung der Wirtschaft zur raschen Industrialisierung des finanzpolitischen und wirtschaftlichen unabhängigen Staates.
Atatürks charismatische Persönlichkeit und sein hohes gesellschaftliches Ansehen begünstigten diese Politik des radikalen gesellschaftlichen Wandels. Zweifelsohne konnte die von Atatürk durchgeführten radikalen Umwälzungen und Reformen nur gelingen, weil große Teile der Bevölkerung die ökonomische, gesellschaftliche und bildungsmäßige Rückständigkeit, die letztlich zum Untergang des Osmanischen Reichs geführt hatte, überwinden wollten.
Die Anhänger dieser revolutionären Reformen Mustafa Kemal Atatürks, die sich „Kemalisten“ nennen, sehen sich in dieser Tradition der Anfänge der Republik, in der sich die Politiker mit großer Begeisterung für die Erneuerung und für das Wohl der Bevölkerung eingesetzt haben, ohne sich selbst zu bereichern und ohne in Korruptionsskandale verwickelt zu werden. In ihrer Regierungszeit bis 1950 haben sich die Kemalisten konsequent an diesem Grundsatz orientiert. Die überzeugten Kemalisten kämpfen auch heute gegen Korruption, Vetternwirtschaft und ungerechte Bereicherung der Politiker zu Lasten der Bevölkerung und des Staates. Allerdings hat es in den letzten Jahrzehnten auch Politiker gegeben, die sich als Kemalisten bezeichnen, die aber in Korruption und Vetternwirtschaft verwickelt sind.
Das Ausmaß Korruption, Vetternwirtschaft und an ungeheuerlicher Bereicherung unter der Regierung Erdogans zu Lasten der Bevölkerung und des Staates, hat das Land jedoch in seiner ganzen Geschichte noch nie so erlebt.1)
Vor allem die Trennung von Staat und Religion, due säkulare Staatsform also, die von Atatürk eingeführt wurde, ist in der islamischen Welt einmalig und für die Erreichung eines demokratischen Rechtsstaates von unverzichtbare Bedeutung.
Laizismus ist in einem Lande, dessen Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist, unverzichtbar. Laizismus ist der Grundstein, auf dem die Republik Türkei erbaut wurde.
Für die fundamentalistisch orientierten Islamisten, aber auch für den politischen Islam, welche einen theokratischen Staat nach den Geboten der Scharia errichten wollen, wird der Kemalismus als Hauptfeind und größtes Hindernis gesehen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen der religiös- konservativ orientierten AKP unter Führung von Tayyip Erdoğan, die sich „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ nennt, und den Kemalisten, sind nur vor diesem Hintergrund begreifbar.
Die Tatsache, das Mausoleum von Atatürk in Ankara jährlich von mehreren Millionen Menschen besucht wird, belegt seine große, ja sogar vom Jahr zu Jahr zunehmende Beliebtheit unter großen Teilen der Bevölkerung – auch als Zeichen gegen die Politik Erdoğans. So besuchten laut offiziellen Angaben 2021: 2 146 892 , 2022: rund vier Millionen und 2023: 5 769 045 Besucher das Mausoleum Atatürks.
Viele Intellektuelle in der westlichen Welt unterschätzen die Bedeutung des säkularen Staates in den islamischen Staaten
Wenn heute in rund 50 islamischen Staaten keine echte Demokratie herrscht und es keinen Rechtssaat gibt, besteht der Hauptgrund darin, dass es in diesen Ländern keine säkulare Staatsform besteht. Daher stellt der Laizismus die Grundvoraussetzung für Demokratie und Rechtsstaat vor allem in den islamischen Ländern dar.
Viele Intellektuellen in der westlichen Welt, dies ist meine Beobachtung, unterschätzen leider diese unverzichtbare Bedeutung des Laizismus in Staaten, die hauptsächlich muslimisch geprägt sind. Im Gegensatz zu christlich geprägten Ländern gibt es in vielen dieser Staaten weiterhin Aufstände und an manchen Orten auch Krieg im Namen einer nach eigenen Vorstellungen interpretierten Religion, wie wir dies in Afghanistan, in Pakistan, im İrak, in Syrien und an vielen Orten der Welt beobachten können.
In Deutschland und in Europa haben wir namentlich politische Parteien, die sich „christlich“ nennen. Keine dieser christlichen Parteien fordern oder kämpfen jedoch für eine verfassungsmäßig verankerte Staatsform, nach christlichen Vorstellungen, wie sie im Mittelalter vorherrschend waren. Diesen fundamentale Unterschied sollten die Intellektuellen und Politikerinnen/er in Europa und in Deutschland nicht außer Acht lassen.
Die Partei Erdoğans und er selbst, die das Land nun mehr seit 22 Jahren regieren, haben seit ihrer Machtergreifung die kemalistisch und sozialdemokratisch orientierte „Republikanische Volksparte“ (CHP) als eine Partei propagiert, welche die Demokratisierung verhindere und gegen den EU-Beitritt gerichtet sei. Dies habe ich persönlich als Abgeordneter des Bundestages und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats seitens mancher deutschen Politikerinnen und Politiker gehört.
Es waren jedoch gerade Atatürk und seine Mitstreiter, die eine klare Westorientierung der Türkei seit ihrer Gründung 1923 zu ihrem Grundziel erklärt hatten und mit eingeleiteten radikalen Reformen auch in die Tat umsetzten 2).
Die von Atatürk gegründete Partei, die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), hat eine umfassende Publikation herausgegeben mit der Überschrift: „EU-Beitritt ja, privilegierte Partnerschaft nein“. Genau darum geht es den Sozialdemokraten und Kemalisten: Sie wollen, dass die Türkei gleich behandelt wird mit allen aufgenommenen und aufzunehmenden Ländern in die EU. Sie sind gegen jegliche Form der Ungleichbehandlung und Diskriminierung der Türken. Was soll daran nicht richtig sein?
Es sind die kemalistisch orientierten Intellektuellen, Wissenschaftler, Journalisten, Künstler, Richter, Lehrer, Ärzte und Offiziere, die seit Jahrzehnten unermüdlich für die radikalen demokratischen Reformen in der Türkei eintreten und diese unnachgiebig fordern.
Die Ideen von Atatürk dürfen jedoch nicht statisch verstanden und als unantastbar tabuisiert werden. Sie sind vielmehr dynamisch, als sich ständig erneuernde Überlegungen zu interpretieren.
Die Anhänger der Ideen Atatürks sind konsequente Verteidiger des Laizismus. „Die Türkei ist ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.“ So lautet der Artikel 2 der Verfassung. Dieser Artikel ist unveränderlich und unantastbar.
Vereine zur Förderung der Ideen Atatürks
Weltweit, in Europa und in Deutschland sind hunderte eingetragene Vereine der Menschen mit türkischer Herkunft, vor allem unter dem Namen „Verein zur Förderung der Ideen Atatürks“ aktiv. Die Mitglieder dieser Vereine sind voll und ganz in die jeweilige Gesellschaft, in der sie leben, auch in Deutschland integriert, sind für Demokratie und Rechtsstaat, akzeptieren voll und ganz das Grundgesetz und treten ganz entschieden für ein friedliches und gleichberechtigtes Leben in Deutschland ein. Ich selbst bin Mitglied dieser Vereine in Hamburg, wo ich 25 Jahre lang als Hochschullehrer tätig war. Ich bin auch Mitglied des Vereins in Berlin-Brandenburg.
Zu meinem großen Erstaunen erhalten dieser Vereine bei ihrer Arbeit keinerlei politische oder auch finanzielle Unterstützung von Behörden und erfahren selten die Aufmerksamkeit der Medien, im Gegensatz zu den Vereinen, die substanziell gegen Integration, säkularen und demokratische Rechtssates orientier sind.
Ich frage mich, ob diese Haltung der Politikerinnen/er primär mit anti-imperialistischen Positionen der „Vereine zur Förderung der Ideen Atatürks“ zu erklären ist. Es wäre ehrlich und schön, wenn wir hierzu eine aufrichtige Erklärung bekämen.
- Größte Korruptionsskandale in der Geschichte der Türkei, in: Hakki Keskin, Die Politik Erdoğans führt das Land Innen- und Aussenpolitisch in die Sackgasse, Hamburg, Oktober 2015,
- Für detailliertere Informationen siehe: Keskin, Hakkı: Die Türkei. Vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat, Berlin 1978 (Mein Studium und Dissertation habe ich am Otto-Suhr Institut der FU Berlin abgeschlossen. Großteil meiner Doktorarbeit erschien in fünf Auflagen im obigen Titel).
Prof. Dr. Hakki Keskin, Politikwissenschaftler, ehem. MdB, www.keskin.de
12.6.2024