Doch nicht westwärts
In der Türkei macht sich Ernüchterung breit. Konservative Tendenzen in Gesellschaft und Politik lassen die Frage aufkommen, ob das Land bereit für Europa ist.
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Jahrelang war der EU-Beitritt der Türkei eine der heiß diskutierten europäischen Fragen. Seit dem Ankara-Protokoll 2005 ist der langfristige Beitritt erklärtes Ziel europäischer Politik. So richtig haben sich die Bürger mit der Idee der europäisch-türkischen Hochzeit allerdings nie angefreundet. Euro-Krise und „Pleite-Griechen“ haben das Thema in letzter Zeit zusätzlich in den Hintergrund gedrängt. Während Europa auf die Beitrittsfrage zurzeit keinen Gedanken verschwendet, kühlt auch auf türkischer Seite der Europa-Enthusiasmus deutlich ab.
Die wachsende Ablehnung rührt in erster Linie daher, dass man sich durch den langwierigen Prozess getäuscht fühlt. Seit 2005 verhandeln die Parteien ohne wirklichen Fortschritt. Rana Birden Çorbacıoğlu, Gastdozentin an der Okan University in Istanbul, bezeichnet den Prozess als demotivierend und unterstellt beiden Seiten, in Wahrheit an einem erfolgreichen Abschluss derzeit gar nicht interessiert zu sein. Auch die türkische Jugend hat ihre Meinung in den vergangenen Jahren geändert. Şebnem, Philosophie-Studentin aus Istanbul, war früher überzeugte Befürworterin des Betritts. Heute sagt sie: „Europa, das ist ein Haufen spielender Kinder, die keine neuen mitspielen lassen wollen. So einer Gemeinschaft muss ich mich nicht aufdrängen.“ Die Hinhaltetaktik in der Beitrittsfrage wird vielfach als Arroganz interpretiert. Da bleibt man als „Mix aus Europäern und Asiaten“ doch lieber eigenständig. Das Bild von den im Sandkasten spielenden Kindern ist bezeichnend für die Außenwirkung der EU: ein chaotischer Verbund zerstrittener Egoisten.
Wirtschaft gut, Menschenrechte bedenklich
Man könnte das als Trotzreaktion interpretieren – wäre da nicht die wachsende Überzeugung, dass ein EU-Beitritt von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen wäre. Auf den griechischen Nachbarn schauen die Türken inzwischen mit einem Gefühl von Geringschätzung und Spott. Seit 1981 Mitglied der EU, hat Griechenland jahrzehntelang von europäischen Hilfsgeldern profitiert. Vor einer strukturell desaströsen Wirtschaft hat das die Griechen nicht bewahrt. Das Land verzeichnete im Jahr 2011 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5 Prozent. In der Türkei schaut man hingegen auf stolze 4,5 Prozent Wachstum. Warum soll man also nach Europa, geschweige denn in den Euro? Die Krise zeigt, mit welchen Maßnahmen aus Brüssel die mediterranen Mitglieder der Euro-Zone zu kämpfen haben. Außerdem würde die Mitgliedschaft in der Gemeinschaftswährung die Preise verteuern und die eigene Konkurrenzfähigkeit bedrohen.
Woran sich die Gemüter auf beiden Seiten letztlich aber am meisten erhitzen, ist das Thema Menschenrechte. Viele in Europa sehen die Türkei noch nicht weit genug auf dem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Erst im Frühjahr fielen 38 Journalisten einer Verhaftungswelle zum Opfer und die NGO „Reporter ohne Grenzen“ führt die Türkei 2011 auf dem Index für Pressefreiheit auf Platz 148 von 179 Staaten. Unter Rückgriff auf den Türkentum-Paragrafen schafft die konservative Regierungspartei AKP eine zunehmend repressive Atmosphäre. Auch die kemalistische Staatsideologie, Begründung für Laizismus und Orientierung nach Europa, wird neuerdings durch gesellschaftliche und politische Entwicklungen zurückgedrängt. Erst kürzlich plädierte die AKP dafür, einen Gottesbezug in die neue Verfassung aufzunehmen und die AKP-Frauen setzen sich für eine Einschränkung des Kopftuchverbots ein.
Mentalitätswandel können nicht von außen erzwungen werden
Prowestliche Eliten betrachten diese Veränderungen mit Sorge. Sie bauen darauf, dass genug Druck durch die EU die menschenrechtliche Situation in der Türkei verbessern kann. Der Beitritt ist trotz aller Zweifel auf ökonomischem Gebiet für sie die letzte Hoffnung. Eda, Mitte zwanzig und Jurastudentin in Istanbul, berichtet von den Schikanen, die sie als nicht-religiöse Türkin inzwischen selbst mancherorts erlebt: „Ich komme in den Himmel, du in die Hölle“, musste sie sich kürzlich von einer Çarşaf-verhüllten Frau auf der Straße anhören. Die Türkei in der EU, das ist für Eda vor allem die Hoffnung, dass die Rechte der Frau auch in der Gesellschaft ankommen. Ähnlich sieht es ihr Freund Mustafa, ebenfalls Jurastudent: Ein Beitritt ist wünschenswert, weil er die menschenrechtliche Situation in der Türkei verbessern würde.
Was muss zuerst kommen? Eine Hinwendung der türkischen Politik und Gesellschaft zu europäischen Maßstäben oder EU-Regularien von oben? Mentalitätswandel oder Beitritt? Für Eda und Mustafa ist klar: Ohne EU wird sich die Lage nicht verbessern, sondern eher verschlechtern. Wäre die türkische Tendenz zu Traditionalismus nur von politischen Kräften verordnet, wäre das wohl richtig. Dass sich die AKP seit 2011 auf einer soliden Mehrheit von über 50 Prozent ausruht, zeigt allerdings, dass ihre Marschrichtung in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert ist. Ein EU-Beitritt, nur um einen Wandel hin zu mehr Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten zu erzeugen, erscheint zweifelhaft – trotz der tragischen Lage in der sich Pro-Europäer wie Mustafa und Eda befinden. Soll die Türkei ein zuverlässiges Mitglied sein und die normative Kraft der EU nicht weiter ausfransen, muss der Mentalitätswandel von innen kommen.
Man beachte das Beispiel Griechenland: Die Einstellung, relativ unbesorgt über die eigene Verhältnisse zu leben, hat in der Krise auch ihre Rolle gespielt. Durch den EU-Beitritt 1981 war diese Mentalität weder schlagartig noch kontinuierlich ausgestorben. Es reicht also offenbar nicht, einem Land europäische Standards überzustülpen und dann auf einen automatischen Wandel zu warten.
von Bernhard Clemm