Mindestens 13 Millionen Menschen leben in Istanbul, Europas größter Metropole. Ein Besuch in der Stadt am Bosporus, die niemals schläft
Burak Somer ist kein besonders gut angezogener Mann. An diesem spätherbstlich kühlen Tag trägt er ausgelatschte No-Name-Turnschuhe, Cordhose und einen Anorak, der auch schon in die Jahre gekommen ist. Um so erstaunlicher mutet es an, dass der 45-jährige Türke hauptberuflich nichts anderes tut als andere Leute beim Einkaufen beraten. „Shoppingguide“ wird das neudeutsch genannt, greift in diesem Fall aber viel zu kurz.
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Denn der studierte Kunsthistoriker Somer, der gerade eine Schar aufgeregter Touristinnen durch den labyrinthischen Großen Basar geleitet, ist Mitgiftberater. „Unter 50.000 Euro Mitgift lohnt es sich nicht, einen wie mich zu bemühen“, erzählt er nicht ohne Stolz. Mitgift, das sei jener Betrag, den beide Väter für das Brautpaar aufbringen. Betuchte Brauteltern der türkischen Oberschicht zögen auch heute noch gern einen Professionisten zurate, wenn es darum ginge, die auch bei uns sprichwörtlich gewordenen „Sieben Sachen“ für die Mitgift auszuwählen.
Auch im Islam gibt es ein Zinsverbot, „ein Dirham an Zinsen, den man wissentlich nimmt, ist schlimmer als sechsunddreißig unzüchtige Handlungen“, sagt schon der Gesandte Allahs. So wurde bei der Eheschließung traditionell in wertbeständige Sachen investiert, die bei Bedarf schnell veräußert werden konnten: Teppiche, bestickte Stoffe, Gold, Silber, Porzellan, Schmuck und Antiquitäten. All das gibt es in Istanbul auch heute noch im Großen Basar und wird neben den Touristen auch von den Einheimischen dort gekauft. „Man muss halt wissen wo“, sagt Burak, „in den meisten der über 3000 Geschäften gibt es nur Ramsch.“
Und bringt die Einkaufswütigen prompt in eines jener 25 Geschäfte, die seiner Meinung nach Qualität zu bieten haben. Das englische Shoppingmagazin Time Out war auch schon da und hat die bunten Kelims mit den modernen Mustern für gut befunden, wie einer Kopie des Blattes in der Auslage zu entnehmen ist.
20-Millionen-Moloch
Feilschen ist ein sportliches Muss, und wer eine Reduktion von 50 Prozent verhandelt hat, glaubt, ein gutes Geschäft gemacht zu haben und ist doch der Gelackmeierte. Das macht aber nichts, denn der Ton bleibt immer freundlich und auch wer nichts kauft, wird nicht bedrängt.
Istanbul ist hipp, und nicht erst seit seiner fragwürdigen Adelung als Kulturhauptstadt 2010 spähen die Trendscouts in die angesagten Viertel am Bosporus. Schlendert man aus dem Bazar und lässt die traditionellen Spitzensehenswürdigkeiten wie Hagia Sophia, Blaue Moschee und Topkapi Palast getrost rechts liegen, kommt man an die Galatabrücke – und wird erstmals mit dem weitaus weniger beschaulichen Gesicht der Stadt konfrontiert.
Versuchen Ortsunkundige erst, die mehrspurige Straße zu überqueren, werden sie schnell eines Besseren belehrt. Der geschätzte 20-Millionen-Einwohner-Moloch (offiziell sind es 13 Millionen) zeigt einem, was es heißt, aus der Provinz zu kommen. Hier herrscht 23 Stunden täglich Rushhour, die unzähligen gelben „Taksis“ sind die Platzhirsche, die ihre Position souverän behaupten, die Garnituren der einzigen modernen Straßenbahnlinie bimmeln kläglich, kurz, hier ist für den Ungeübten kein Durchkommen und auch in der endlich gefundenen Unterführung brummt ihm der Schädel vor lauter schnatterndem und blinkendem Plastikspielzeug, das hier feilgeboten wird.
Endlich ist die Brücke überquert (ja, die Fischer stehen noch da, dicht an dicht, wie es auf tausenden Fotos zu sehen ist), und die andere, ebenfalls europäische Seite des Goldenen Horns ist erreicht. Hier startet bereits seit 1875 der „Tünel“, eine unterirdisch verlaufende Standseilbahn, die einst als Fortsetzung des Orientexpress ins Europäer-Viertel gebaut wurde und immerhin die zweitälteste „U-Bahn“ der Welt ist.
Dort, wo die Bahn 61 Meter weiter oben endet, im angesagten Ausgehviertel Beyoglu, steppt der Bobo. Rund um den Galata-Turm, einst Zentrum der genuesischen Handelsniederlassung, reiht sich heute eine schicke Designerbou-tique an die andere und man trinkt – natürlich – fair gehandelten Kaffee. Neben der veganen Salatbar gibt es aber auch die traditionellen Dönerbuden, wo man um praktisch kein Geld einen schnellen Imbiss einnimmt und dazu einen Chai kippt.
Biegt man von da erst in die elegante Istiklal Caddesi, Fußgängerzone und Haupteinkaufsstraße, ein, versteht man, warum die Türkei derzeit stolze 10,2 Prozent Wirtschaftswachstum verzeichnet. Die Straße ist schwarz vor Menschen, die flanieren, plaudern, sehen, gesehen werden und – nicht zu vergessen – auch kaufen. In den prachtvollen Jugenstil- gebäuden, die die Straße säumen, sind natürlich auch schon die großen, internationalen Ketten eingezogen, die die neue Mittelschicht hier mit Begeisterung annimmt wie anderswo auch.
Daneben gibt es aber noch die alten Passagen, die daran erinnern, dass für die „Cité de Pera“ auch Paris als Vorbild stand. In den Seitenstraßen finden sich Vintage- und Antiquitätengeschäfte, Plattenläden, Galerien und ein fantastisch gut sortierter Comichandel. Das alles wuselt, wimmelt und strahlt eine derartige Aufbruchsstimmung aus, dass man sich an das New York der Jahrhundertwende erinnert fühlte, wenn man es denn erlebt hätte.
Und alles, alles strebt dem Taksim zu, dem höchstgelegenen Platz, an dem in alten Zeiten das Wasser verteilt wurde und jetzt die Menschenmassen, die von hier aus in die Stadt strömen. „Drei Millionen Menschen überqueren jeden Tag diesen Platz“, erzählt Ata Eremsoy, General Manager des noblen The Marmara Taksim, das seit den 1970er-Jahren auf eben diesem Platz thront. Die Entstehungszeit merkt man dem 5-Sterne-Haus dank steter Renovierung nicht an, der Blick aus dem Panoramarestaurant ist seit 30 Jahren unverändert spektakulär.
Ebenfalls einen 360-Grad-Blick hat man aus der angesagten Bar 360Istanbul, die wohl nur im Sommer ihre sämtlichen Reize ungebremst ausspielen kann. Im Dezember hat es ja auch am Bosporus nur um die zehn Grad, was das Genießen der Dachterrasse nächtens doch etwas einschränkt. Das Jungvolk lässt sich davon aber nicht abhalten, ist unverändert gutaussehend, international und ausgehwillig bis in die Hucken. Das kann schon einmal dazu führen, dass völlig Unbekannte aus einem innerstädtischen Stiegenhaus heraus abgefangen und zu einem türkischen Polterabend eingeladen werden. Mit Trinken, Tanzen und Hennatattoos für die besonders Verwegenen. Torkelt man dann um gefühlte drei Uhr morgens wieder auf die Istiklal Caddesi, ist hier noch immer so viel los wie auf der Wiener Mariahilfer Straße an einem Einkaufssamstag vor Weihnachten. Das Volk schläft nicht. Schade eigentlich, dass die Türken jetzt nicht mehr zur EU wollen.
Zeit zum Ausnüchtern: Im Galatasaray Hamami wird einem der Kopf gewaschen wie zu Sultans Zeiten, streng geschlechtergetrennt natürlich. Auch wenn der prachtvolle Bau durch ein Entrée aus den 1960er-Jahren arg verunstaltet ist, sollte sich die Besucherin nicht abschrecken lassen. Drinnen ruht man stilvoll unter einer Kuppel auf einem Marmorpodest und wird von alten Waschweibern geschrubbt und geseift bis man zufrieden schnurrt. (Tanja Paar/DER STANDARD/Printausgabe/03.12.2011)