Murat Çakır
Ägypten: Ein echter Sieg, aber wie weiter?
Einige Gedanken über das neue Ägypten nach Mubarak
16. Februar 2011
Nach 1989 ist es wohl das zweite Mal, in der die Zeit in einem solch rasanten Tempo voranschreitet. Wenn Massen in Bewegung geraten, scheint es so, als ob die Welt aus ihren Fugen geraten ist. Nachrichten veralten in Minutentakt. Analysen und Kommentare sind schon überholt, noch ehe sie gedruckt werden können.
Genau daran musste ich denken, als ich meine Gedanken über die Ereignisse nach dem Flucht Hüsnü Mubaraks aus Kairo niederschreiben wollte. Agenturen meldeten schon seinen Rücktritt. In den Fernsehnachrichten wurden Liveaufnahmen von Menschen gezeigt, die auf dem Tahrir Platz, welcher zu einem Ehrenmonument des ägyptischen Volkes geworden war, sangen und feierten. Von den Ereignissen überwältigte JournalistInnen kommentierten enthusiastisch die Bilder: »Das ägyptische Volk hat das Regime niedergerissen«.
Ohne Zweifel ist der Abgang eines weiteren Despoten im arabischen Raum ein Grund zur Freude. Die Siegesfreude der Millionen ist allzu berechtigt. Jedoch ist auch die Frage berechtigt, ob das Regime wirklich »niedergerissen« wurde und wie das neue Ägypten nach Mubarak nun aussehen wird. Denn wohin die Reise geht, ist noch offen.
Die Entwicklung in Ägypten wird den gesamten Nahen Osten verändern – darin sind sich wohl alle Nahost – ExpertInnen einig. Festzustellen ist zuerst, dass für die Völker im Nahen Osten eine psychologische Hemmschwelle überwunden ist, welches quasi eine Ewigkeitsklausel für die arabischen Herrscher markierte. Die Proteste z.B. in Jemen, Jordanien oder Algerien zeigen, dass sich die arabischen Herrscher ihrer Sache nicht mehr ganz sicher sein können und diese Entwicklung für die übrigen Länder der Region nicht ohne Wirkung bleiben wird.
Genau diese Tatsache ist aber m. E. der Grund dafür, dass der weitere Prozess in Ägypten ab sofort nicht alleine von den inneren Dynamiken, sondern vor allem von den Einflüssen der internationalen Politik wesentlich bestimmt sein wird. Wie die Bevölkerungsmassen und die noch nicht gefestigte Opposition darauf reagieren werden, steht noch nicht fest. Dennoch lohnt sich, jetzt eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Ein grandioser Sieg der Spontaneität
Das ägyptische Volk ist für seinen Sieg über Mubarak zu beglückwünschen. Chapeau! In den Ereignissen der letzten Wochen hat die arabische Welt eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Bevölkerungsmassen, denen im Westen allzu gern die Demokratiefähigkeit abgesprochen und im sarrazinischen Manier ein Hang zum Fundamentalismus bescheinigt wird, ohne Gewaltanwendung, friedlich und ohne die Unterstützung westlicher Regierungen, langjährige Tyrannen binnen kurzer Zeit entthronen können. Mit ihren, in der arabischen Welt selten beobachteten Beharrungsvermögen hat die ägyptische Bevölkerung einen Präzedenzfall geschaffen, der für den gesamten Nahen Osten ein Vorbild und Aufbegehrungsmotivation sein wird.
Der ägyptische Aufstand hat m. M. n. zudem zwei Krisen zu Tage gefördert, die für die Deutung des weiteren Prozessverlaufs von Bedeutung sind: die Hegemoniekrise des Westens und die Einflusskrise des politischen Islams. Zahlreiche Kommentare von DemonstrantInnen auf dem Tahrir Platz und anderen Orten belegen das erstere: »Der Westen soll sich nicht einmischen. Es reicht, wenn sie Mubarak und anderen Despoten die Unterstützung verweigern« war überall zu hören. Ähnliches konnte man aus den Interviews mit ägyptischen Intellektuellen vernehmen. Die Tatsache, dass die USA und die europäischen Regierungen die tyrannischen Regime Jahrzehntelang unterstützt und gemästet haben, und den arabischen Völkern islamistische Tendenzen zusprachen, kann mit Solidarisierungserklärungen westlicher Staatsoberhäupter oder den Versprechungen, die Gelder aus den Konten der gestürzten Herrschern, die eh den Völker gehören, an sie zurückgeben zu wollen, nicht einfach aus dem Gedächtnis des Nahen Ostens getilgt werden. Der Westen hat seine Chance verpasst, wie der ägyptische Politikwissenschaftler Amr Hamzawy am 10. Februar 2011 in der taz betonte.
Eine Studie des Brookings Institute vom August 2010 belegt, wie sehr die Bevölkerungen in den arabischen Ländern dem Westen misstrauen. Laut dieser Studie sollen rund 88 Prozent der befragten Personen Israel und 77 Prozent die USA als eine Bedrohung für ihre Zukunft ansehen. Eine große Mehrheit (57 Prozent) seien zudem der Auffassung, dass eine mögliche nukleare Bewaffnung Irans ein Sicherheitsschirm gegen die aggressive US-Politik bedeuten könnte. (Quelle: Noam Chomsky, http://zcommunikations.org) Selbst wenn der Westen alte und neue Autokraten, Diktaturen und Monarchien nicht weiter unterstützt, wird ihre von Wirtschaftsinteressen geleitete Politik die Sympathien der arabischen Bevölkerung nicht wieder erlangen können.
Entgegen den im Westen geäußerten Befürchtungen konnten islamistische Kräfte keinen Boden gewinnen. Sowohl in Tunesien, als auch in Ägypten, wo die Organisation der Muslimbrüder sich erst am dritten Tag und sehr zögerlich zu den Demonstrationen gesellte, war eine »Islamisierung« der Bewegung nicht möglich. Im Gegenteil; die überwiegende Mehrheit lehnte es ab, von islamistischen Kräften geführt zu werden. Koptische ChristInnen und MuslimInnen standen Schulter an Schulter und bewiesen so, dass der Anschlag auf die koptische Kirche in der Silvesternacht keine Zustimmung in der Mehrheitsbevölkerung findet.
Gerade die Muslimbrüder, die es versäumt haben, sich um die sozialen Probleme der Menschen zu kümmern, bekamen von der Bevölkerung die Rechnung dafür präsentiert. Die ägyptische Öffentlichkeit hatte nicht vergessen, dass die Muslimbrüder, während sie die Korruption, Armut und prekäre Arbeitsverhältnisse nicht ein einziges Mal öffentlich anprangerten, gleichzeitig den seit 2007 in den Bereichen der Post, Finanz- und Textilwirtschaft entstandenen ArbeiterInnenbewegung und ihren Streiks stets die kalte Schulter gezeigt haben. Meines Erachtens ist das der eigentliche Grund dafür, weshalb sie trotz ihrer organisierten Anhängerschaft keinen Führungsanspruch stellen wollten bzw. konnten. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass der politische Islam, der in Ägypten die sozialen Forderungen der Bevölkerung nicht angemessen vertrat und sich damit begnügte, im eigenen Milieu neue Mittelschichten zu produzieren, sich entzaubert hat und es nicht einfach haben wird, im weiteren Prozess ihren Einfluss zu erhöhen. Dies ist im Übrigen auch der beste Beweis dafür, dass mit der einfachen Aussicht auf demokratische Freiheiten, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung jede antidemokratische, autoritäre und fundamentalistische Bewegung von der Bevölkerung selbst in seine Schranken verwiesen werden kann.
Aus den Ereignissen in Ägypten lassen sich auch Erkenntnisse über die Spontaneität von Massenbewegungen gewinnen. Selbst aus einer fernen Betrachtung werden die Stärken und Schwächen der Bewegung deutlich. Glaubt man der Berichterstattung unterschiedlicher Quellen, waren vor allem unorganisierte, gut ausgebildete und nach demokratischen Freiheiten hungrige junge Menschen der Motor der Veränderungen. So wie es aussieht, sind das junge AraberInnen, die die neuen Kommunikationstechnologien bestens nutzen können, diese als Instrument der Organisation von Demonstrationen einsetzen, mindestens eine Fremdsprache sprechen und die Entwicklungen weltweit verfolgen. Ihr Freiheitsdrang und die Suche nach Auswegen aus der Perspektivlosigkeit wurden mit den Bildern aus Tunesien schlagartig zum Katalysator für ihr öffentliches Aufbegehren. So motivierten und ermutigten sie die ägyptischen Mittelschichten und ArbeiterInnen, mit denen die Protestbewegung eine ungeahnte Dynamik gewann.
Dem gegenüber konnten die, vom Regime Jahrelang in Schach gehaltenen Oppositionskräfte, besonders die marginale ägyptische Linke, die schwache Gewerkschaftsbewegung, aber auch die starken Muslimbrüder, die Führung der Bewegung nicht übernehmen. Das gilt übrigens auch für die Vertreter der bürgerlichen Kräfte wie Muhammed El Baradei oder dem Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Musa. Obwohl die letztgenannten international bekannt sind und auch in der ägyptischen Öffentlichkeit durchaus geschätzt werden, konnten sie sich nicht an die Spitze der Bewegung setzen. Aber auch die Jugendbewegung 6. April, die 2008 als Solidarisierungsaktion mit den TextilarbeiterInnen in Mahalla El Kubra gegründet wurde und die 2004 von unterschiedlichen Gruppen gegründete Kefaye (»Es reicht«) Bewegung konnten, obwohl sie von Anfang an auf den Straßen waren, die Massen nicht kontrollieren.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in der ägyptischen Öffentlichkeit gegen die »Jugendbewegung 6. April« und »Kefaye Bewegung« Beschuldigungen laut geworden sind, mit denen ihnen Zusammenarbeit mit US-Behörden vorgeworfen werden. Der türkische Kolumnist Ahmet Kaplan, ein Kenner Ägyptens, wies in diesem Zusammenhang auf die Wikileaks-Veröffentlichungen hin. ) Laut Kaplan sollen die Führungspersönlichkeiten des »6. April« engen Kontakt zum US-Botschafter in Kairo unterhalten. Seit ihrer Gründung in 2008 gäbe es Unterstützung des US-Außenministeriums. Ihre Teilnahme an dem Alliance of Youth Movements und die Ausbildung ihrer AktivistInnen durch das CIA-Institut Freedom House wären seit langem bekannt. Kaplan zu Folge würde die Website des »6. April« über Alliance of Youth Movements von der US-Administration finanziert.
Auch die »Kefaye Bewegung« würde auf US-Unterstützung zählen. So bekämen sie von Peter Ackermann, eine Führungspersönlichkeit im Counsil of Foreign Relations und des CATO-Instituts, große Unterstützung. Laut eines Bericht des Freedom House ) nahmen mehrere NGO-AktivistInnen aus Ägypten an Seminaren mit hochrangigen US-amerikanischen und europäischen Persönlichkeiten teil. Gespräche habe es auch mit den damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice und anderen Regierungsbeamten gegeben, die den AktivistInnen finanzielle Hilfen zugesagt hätten. (Quelle: http://sendika.org)
Dass in der Bevölkerung diese Organisationen misstrauisch beobachtet werden, hat wohl seine guten Gründe.
Letztendlich kann der Sturz Mubaraks als ein grandioser Sieg der Spontaneität bezeichnet werden. Aber, das was alle zusammengehalten hatte, war eben diese Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten. Jetzt, wo diese Forderung erfüllt worden ist, wird der »Kitt«, der die Bewegung zusammen hielt, nun spröde und verliert an Kraft. Das Fehlen einer von der Mehrheit akzeptierten Führungsfigur bzw. einer politischen Formation, die mit weitergehenden Forderungen die »Lokomotive« der Bewegung sein könnte, offenbart die Schwäche der Bewegung. Und das wiederum stärkt die Armeeführung, die jetzt alleine an den Schalthebeln der Macht Platz genommen hat. Denn die Armee ist die einzige Kraft, die innerhalb der Bevölkerung und in allen gesellschaftlichen Schichten ein großes Maß an Vertrauen genießt – mit einer Einschränkung: Noch!
Der Bock wird zum Gärtner…
Nach dem Rücktritt des Präsidenten ist die gesamte Macht im Staate, über den Hohen Militärrat in die Hände der ägyptischen Generalität gegangen. Als erstes hat der Militärrat die Verfassung außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst. In den ersten Kommuniqués wurde mitgeteilt, dass innerhalb von sechs Monaten »freie und demokratische Wahlen« stattfinden werden und Ägypten sich weiterhin allen »regionalen wie internationalen Verträgen verpflichtet fühlt«. Auch eine Kommission zur Veränderung der Verfassung sei eingesetzt, wobei ein Zeitrahmen dafür nicht genannt wurde.
Diese Erklärungen und die Aussicht, dass der dreißigjährige Ausnahmezustand aufgehoben werden könnte, scheint die Mehrheit der Bevölkerung fürs erste beruhigt zu haben. Ob aber die Armeeführung eine vollständige Änderung des politischen Systems will und die Macht einer, wie auch gearteten zivilen Regierung gänzlich geben wird, halte ich für unwahrscheinlich. Ein kurzer Blick in die Strukturen der Armee belegt dies.
Während die Internetseite http://wapedia/mobi.de die ägyptischen Streitkräfte mit 450.000 aktiven Soldaten und rund 250.000 paramilitärischen Einheiten als elftstärkste Armee der Welt bezeichnet, geht Prof. Dr. Dietmar Herz (Uni Erfurt) davon aus, dass knapp 1 Million Soldaten unter Waffen stehen. (FAZ vom 12. Februar 2011). Das Militärbudget beträgt 2,4 Milliarden US-Dollar. Diese gewaltige Militärmaschinerie steht unter den Befehlen des Generalfeldmarschalls Muhammed Hussein Tantawi Suleyman und des Stabchefs Sami Hafez Enan.
Die ägyptische Armee, vornehmlich als »Staat im Staate« bezeichnet, unterhält enge Kontakte zur USA, der EU und zur NATO. Die ägyptischen Streitkräfte sind – genau wie die tunesische Armee – seit 1994 Mitglied des NATO-Programms »Mittelmeer Dialog«. (siehe: Gleichzeitig ist Ägypten Teil der Mittelmeer Union der EU. (siehe: Beide Programme haben viele gleichlautende Ziele: »Zusammenarbeit für den Frieden, Offiziersausbildung, Rüstungskontrolle, Zusammenarbeit der Dienste« und natürlich »Kampf gegen den Terrorismus«. Wie dieser »Kampf« inzwischen aussieht, braucht wohl hier nicht ausgeführt zu werden.
Für die am 13. Juli 2008 in Paris gegründete Mittelmeer Union der EU spielen zudem das 450 Milliarden Euro schwere »Desertec-Projekt« ) mit dem rund 15 Prozent des jährlichen Strombedarfs Europas gedeckt werden soll und die Kontrolle der illegalen Migrationsströme eine wesentliche Rolle.
Die Armeeführung, die bis in die letzten Tage die wichtigste Stütze von Hüsnü Mubarak war, gilt auch als Garant des Camp-David-Friedensvertrages von 1978. Seither bestehen zum Pentagon enge Kontakte. Noch vor einer Woche hatte der US-Außenminister Robert Gates erklärt, dass die US-Administration vom Befehlshaber der ägyptischen Armee und stellv. Ministerpräsident Tantawi Suleyman minutiös über die Entwicklungen informiert werde. Dass dabei die jährlichen Transferleistungen der USA von über 1,3 Milliarden US-Dollar an die ägyptische Armee eine gewichtige Rolle spielen, sagen nicht nur die gehässigen Mäuler.
Genau wie die türkische Generalität ist die ägyptische Armeeführung, mit ihren weitgehenden wirtschaftlichen und rechtlichen Privilegien zu uniformierten Kapitalisten mutiert. Die ägyptischen Generäle profitieren über zahlreiche Firmen in vielen Wirtschaftszweigen von den Segnungen des kapitalistischen Wirtschaftens. Die politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und steuerlichen Privilegien der Armeeführung sind immense Pfründe, auf die sie keineswegs verzichten werden. (Unter dem Titel »Die ägyptische Armee AG« hat Welt am Sonntag einen ausführlichen und eindrucksvollen Bericht über das Wirtschaftsimperium der Generalität veröffentlicht. Dieser Bericht zeigt, welche Interessen für die Armeeführung von höchster Priorität sind und keineswegs diese einer Demokratie opfern würden: https://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article12524461/Die-aegyptische-Armee-AG.html
Dass die Armeeführung ihren verfassungsmäßigen Oberbefehlshaber Mubarak fallen ließ und gegenüber der protestierenden Massen nicht mit Gewalt vorgegangen ist, hat m. M. n. zwei wichtige Gründe: Zum einen war Mubarak nicht mehr zu halten. Ihn zu stützen hätte bedeutet, dass sie alle Sympathien in der Bevölkerung verspielen würden. Dann wären mit Mubaraks Abgang auch ihre Privilegien gefährdet. Zum anderen ist die ägyptische Armee eine Armee von Wehrpflichtigen. Die Wehrpflicht dauert, je nach Ausbildungssituation der Wehrpflichtigen, 12 bis 36 Monate. Soldaten und Unteroffiziere auf Zeit spiegeln die Gesellschaft wieder. Viele von ihnen haben Verwandte und Freunde unter den DemonstrantInnen. Hätten die Generäle ihnen gewaltsames Vorgehen befehligt, dann hätten sie riskieren müssen, dass Teile der Armee zu den DemonstrantInnen überlaufen wären.
Jetzt aber können sich die Generäle als Vollstrecker des Volkswillens präsentieren. Mit Zugeständnissen, die im Grunde genommen ihre starke Position nicht tangieren, und kurzfristigen Maßnahmen, wie die Herabsetzung der Preise für die Grundnahrungsmittel oder Erhöhung der Löhne der staatlichen Angestellten (siehe: Junge Welt vom 14. Februar 2011) haben sie zusätzliches »Kredit« bei der Bevölkerung erkaufen können. Die Tatsache, dass die wenigen DemonstrantInnen, die schnelle und weitergehende demokratische Schritte von Hohen Militärrat forderten, von vielen Passanten zur Räumung des, inzwischen für den Verkehr wiedereröffneten Tahrir Platzes aufgefordert wurden, zeigt, dass sich die Protestbewegung längst auseinander zu dividieren begonnen hat.
Der Hohe Militärrat, eigentlich nichts anderes als eine Junta, hat jetzt die Legitimität ggf. hart durchzugreifen – sie hat auch alle Mittel dazu. Den hunderttausenden Soldaten unter Waffen kommt noch ein Millionenheer von Angehörigen und Ehemaligen, die ökonomisch von der Armee abhängig sind. (Dietmar Herz) – die Mitglieder der Sicherheitskräfte sowie die Anhänger des Regimes nicht mitgezählt. Deshalb ist Dietmar Herz zuzustimmen, wenn er, wenn es hart auf hart kommt, den DemonstrantInnen, die mehr an Demokratie fordern, gegen die Phalanx der staatstragenden Kräfte keine Chance einräumt.
Was demnächst folgen wird, ist abzusehen. Die oppositionellen Kräfte werden kaum in der Lage sein, innerhalb der nächsten sechs Monate landesweit und flächendeckend sich auf die Parlamentswahlen vorzubereiten. Die historischen Erfahrungen zeigen: je kurzfristiger Wahlen anberaumt werden, desto mehr nutzen sie den alten Regimeeliten. (Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Berlin) In den Nachrichten kann man schon jetzt nachlesen, wie die früheren Kader des Regimes sich für höchste Ämter bereit machen. So meldet beispielsweise die Tagesschau am 14. Februar 2011, dass sich der ehemalige Vize-Außenminister Abdullah al-Aschal, der sich einst mit Mubarak überworfen hatte, als Kandidat für die Präsidentschaftswahl empfiehlt. Auch Amr Musa, der zwischen 1991 und 2001 Mubaraks Außenminister war oder der ehemalige Ministerpräsident Kemal al-Ganzuri stünden für die Kandidatur bereit.
Ob bei den nächsten Wahlen eines der ehemaligen Kader des Regimes oder ein neuer, vielleicht unverbrauchter Name als Präsident gewählt werden kann, ist jetzt nicht vorauszusagen. Aber, dass die Armeeführung die sog. »Übergangsphase« ganz im Sinne der USA, der EU und der NATO zur Verfestigung ihrer Machtstellung nutzen und nur kosmetische Korrekturen am Regime zulassen wird, scheint mehr als sicher zu sein. Die zentrale Frage ist, ob sich dagegen eine Protestbewegung formieren kann, welcher nahezu die gleiche Kraft aufbringen vermag, wie vorher gegen Mubarak.
Vorbild Türkei?
In den zahlreichen Kommentaren europäischer Zeitungen war in den letzten Tagen immer wieder zu lesen, dass womöglich die Türkei für Ägypten und die anderen arabischen Staaten »ein Vorbild« sein könnte. Sogar im kritischen Neuen Deutschland wurde ein Artikel veröffentlicht (Jürgen Gottschlich, 4. Februar 2011), der das Modell der Türkei als »goldenen Mittelweg« bezeichnete.
Jürgen Gottschlich beruft sich dabei auf eine Studie der liberalen Stiftung TESEV (Stiftung für wirtschaftliche und soziale Forschungen), die im September 2010 in Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Libanon, Syrien und Irak rund 2.500 Menschen befragt hat. So sei die Türkei, »eine echte Inspiration für den Nahen Osten (…) nach dem die islamisch grundierte AKP 2002 an die Macht kam«. Nach der scharfen Rhetorik des AKP-Regierungschefs Erdogan seien »seine Popularitätswerte in der arabischen Bevölkerung erst recht in die Höhe geschossen«. Zitiert wird auch Prof. Fadi Huruka aus London, demzufolge es aufgrund zahlreicher arabischen Istanbul-Touristen und den türkischen Seifenopern in arabischen Fernsehsendern nahe liegt, dass »sich viele Araber durch die Türkei inspirieren lassen«.
Nun, ob der Istanbul-Tourismus arabischer Mittelschichten oder türkische Seifenoper der Grund für diese »Inspiration« sein können, kann ich nicht sagen. Aber die scheinbare Konfrontation Erdogans gegen die israelische Regierung könnte, besonders für die Unterschichten, eine wesentliche Rolle gespielt haben. Ohne Frage, bei einer oberflächlichen Betrachtung aus den Metropolen des Nahen Ostens wird ein Türkei-Bild gesehen, in der die laizistisch-kemalistischen Kräfte zurückgedrängt werden, dem gegenüber konservativ-islamische Kreise über demokratische (!) Wahlen Parlamentsmehrheiten erringen und ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 5 Prozent notiert wird. Islam und Demokratie, Wohlstand und Freiheiten auf einem goldenen Tablett, könnte man sagen.
Aber das ist das Problem mit der oberflächlichen Betrachtung: man sieht nur aus einer unscharfen Perspektive. So wird auch deshalb nicht deutlich, dass Erdogan trotz seiner scharfen, öffentlich inszenierten Kritik an der israelischen Regierung weiterhin an der strategischen Partnerschaft mit dem Staate Israel und der militärischen sowie rüstungspolitischen Zusammenarbeit festhält. Es wird nicht deutlich vernommen, dass die AKP-Regierung mit ihrer neoliberalen Politik weite Teile der Bevölkerung in die Armut und das Land in die Fänge der internationalen Finanzmärkte gestürzt hat und gleichzeitig in neoosmanischer Manier, imperialen Gelüsten nacheifert. (siehe: http://murat-cakir.blogspot.com/2010/07/die-imperialen-geluste-der-neo-osmanen.html)
Die oberflächliche Betrachtung verdeckt vor allem die Tatsache, dass das »Modelland Türkei« seit 30 Jahren einen schmutzigen Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung führt und trotz kosmetischen Veränderungen im Rahmen des sog. »Heranführungsprozesses an die EU« sich nichts daran geändert hat, dass antidemokratische Maßnahmen, polizeistaatliche Übergriffe, massive Menschenrechtsverletzungen, tausendfache politische Inhaftierungen und Folter immer noch auf der Tagesordnung stehen. (Dabei bräuchte man nur die zahlreichen Urteilbegründungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Türkei zu lesen). Und man sieht nicht, dass die Türkei innerhalb ihrer Grenzen längst in zwei, von einander politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell völlig unterschiedliche Länder gespalten ist.
Wenn jene, die sich gerne von der Türkei inspirieren lassen wollen, sich bemühen würden, in die Landesteile östlich des Euphrats zu schauen, dann würden sie ein Land sehen, in der die Bevölkerung verarmt ist, rund 80 Prozent Arbeitslosigkeit die Menschen verzweifeln lässt, die vom Militarismus traumatisiert sind und in der der Ausnahmezustand eine Normalität ist. Vom Euphrat aus beginnt die verbrannte Erde. Hätten sie Zeit, die oppositionellen Medien zu durchstöbern, würden sie die Fotos von den Überresten der Menschen sehen (laut Menschenrechtsstiftung der Türkei 17.000 an der Zahl), die in den letzen Jahren von paramilitärischen Einheiten und den Sicherheitskräften exekutiert und erst vor kurzem aus Massengräbern herausgeholt wurden. Ein genauer Blick in die Türkei würde ihnen deutlich machen, dass die »vorbildhafte« Souveränität der Türkei eine eingeschränkte und von Gnaden des Westen abhängige ist und die militärischen oder bürokratischen Eliten der Türkei, jenen aus dem Nahen Osten in keiner Weise nachstehen. Wahrscheinlich wäre dann zu erkennen, dass nicht die »islamisch grundierte« neoliberale AKP-Regierung, sondern vielmehr die kurdische Befreiungsbewegung mit ihren demokratischen Rätestrukturen, praktizierten Geschlechterdemokratie und vom kurdischen Volk selbst geschaffenen Freiheitsräumen ein Modell sein könnte.
Es ist m. M. n. keineswegs so, dass der Vorschlag, man solle die Türkei als Vorbild nehmen, nur ein naives Gedankenspiel ist. Im Gegenteil; den westlichen Regierungen liegt viel daran, warum die Völker den »goldenen Mittelweg« der Türkei einschlagen sollten. Zum einen ist den Westen das Misstrauen der arabischen Welt ihr gegenüber nicht unbekannt. Zum anderen ist die Türkei, als ein westlich orientierter, islamisch geprägtes Land, das ein sicherer Energieumschlagplatz geworden ist und über eine schlagkräftige Armee verfügt, ein wichtiger politischer und geostrategischer Partner – Ein NATO-Mitglied, auf deren Territorium Nuklearwaffen der USA stationiert sind, dessen sich islamisch gebende Regierung und die israelische Regierung im scheinbaren Clinch stehen, eben ein Land, der ein Labor des Neoliberalismus und inzwischen ein wichtiger Wirtschaftsstandort westlicher Konzerne geworden ist. Was liegt näher dran, eine solche Türkei, die für die weitere Einflussnahme des Westens von unschätzbarem Wert ist, als ein Vorbild für den Nahen Osten zu präsentieren?
Die europäische Heuchelei
Die Reaktion europäischer Regierungen auf die Ereignisse im Nahen Osten ist heuchlerisch. Während die Türkei, der man eigentlich die »Europareife« nicht bescheinigen will, als Vorbild angepriesen wird, achtet man penibel darauf, den Konflikt zwischen den türkischen und israelischen Regierungen nicht zu nennen. Gleichzeitig stellen sich jene PolitikerInnen, die immer zu sozialstaatliche Errungenschaften in Europa als »sozialistische Pranger der Wirtschaft« diskreditieren, nun als willige Unterstützer von »Revolutionen« dar. Zwar wirkt die Revolutionsrhetorik gerade aus den Mündern der neoliberalen Eliten Europas mehr als lächerlich, aber das hat m. E. ein höheres Ziel: das ständige herbeireden von einer Revolution ist nur der plumpe Versuch die eigentliche Revolution, nämlich wirklich demokratische und souveräne Regierungen, die das Selbstbestimmungsrecht ihrer Bevölkerungen achten und von Westen unabhängig agieren können, zu verhindern.
Es dürfte nicht falsch sein, zu behaupten, dass sowohl die USA als auch die EU-Regierungen auf das Ausmaß der Aufstände unvorbereitet waren und überrascht worden sind. Anders ist deren zögerliche Haltung zu Beginn der Aufstände nicht zu erklären. Aber immerhin, sie haben sich schnell gefasst: nur eine halbe Stunde nach dem Rücktritt Mubaraks stand die deutsche Kanzlerin vor den Fernsehkameras und erklärte die »Solidarität der Bundesregierung mit dem ägyptischen Volk«, der sie die »Unterstützung Deutschlands« zusicherte. Sie vergaß aber nicht darauf hinzuweisen, dass die »Übergangsregierung sich unbedingt an den Friedensvertrag mit Israel halten müsse«. Ähnliche Statements folgten aus den anderen NATO-Hauptstädten. Es war allzu offensichtlich, dass die »Paten« der Diktaturen und der »Mafia-Regime« sich nun anstellten, für einen »Übergang« in ihrem Sinne zu sorgen und den weiteren Prozess in Ägypten mitzubestimmen.
Knut Mellenthin, der der Auffassung ist, dass wir in den arabischen Staaten einen Rückgriff auf die Doktrin der »eingeschränkter Souveränität« erleben werden, stellte am 11. Februar 2011 in der Jungen Welt diesbezüglich die Frage, »ob es Ägypten erlaubt werden darf, seine bisherige außenpolitische Orientierung zu überprüfen und auf demokratischer Grundlage neu zu bestimmen«. In seinem Artikel fragt er weiterhin: »Dürfen die Ägypter eine Regierung bilden, an der Kräfte beteiligt sind, die dem Westen und ihrem nördlichen Nachbarn Israel gegenüber weniger devot eingestellt sind als das Mubarak-Regime, das seit 1981 mit terroristischen Mitteln jede Opposition unterdrückt hat? Oder würde der Westen eine solche Regierung ähnlich behandeln, nämlich brutal isolieren und aushungern, wie er es mit jener getan hat, die im Januar 2006 aus den Wahlen in den Palästinensergebieten hervorging? Würden die USA gar ihren Sturz inszenieren, wie sie es 1953 im Iran und 1973 in Chile getan oder 1961 in Kuba vergeblich versucht haben?«
Nun mag man Mellenthin oder die Junge Welt als Linksradikalinski bezeichnen oder ihnen das Widerholen von »überholten antiimperialistischen Phrasen aus dem 20. Jahrhundert« vorwerfen – wozu mache Linke in Deutschland ja allzu schnell bereit sind – oder sagen, dass der heutige Nahe Osten weder mit dem Iran der 1950er Jahre noch mit Chile zu vergleichen ist. Das letztere stimmt sicher, dennoch ist es notwendig, über diese Fragen, die eine linke Antwort bedürfen, nachzudenken. Selbst wenn die europäische Linke den Begriff »imperialistische Interessenpolitik« ad acta legen will, so ist sie doch gehalten, die Jahrzehntelange Nahost-Politik des Westens nachvollziehbar zu erklären.
Ich bin der Auffassung, dass aus linker Sicht notwendig ist, die Ereignisse im Nahen Osten so zu deuten, so dass daraus neue Erkenntnisse für das politische Handeln gewonnen werden können. »Zu sagen, was ist«, ist keineswegs eine theoretische Selbstbeschäftigung oder wie von Robert Misik belächelte »scharfe Fürsprache des Radikalismus«. In diesem Zusammenhang schreibt Misik: »Um die klassische und wunderbare Formel von Michel Foucault zu gebrauchen: Die Bürger erheben sich, weil sie so nicht mehr regiert werden wollen. That’s it. So einfach und doch so fundamental. Ob wir das jetzt Revolution nennen oder nicht, ist dem historischen Prozess schnurzegal. Aber vielleicht sollten wir es bedenken: Es sieht aus wie eine Revolution, es riecht wie eine Revolution. Es wird wohl eine Revolution sein.« (Der Freitag vom 11. Februar 2011)
Wegen meines Einwandes auf Dyab Abou Jahjahs Feststellung (http://murat-cakir.blogspot.com/2011/01/tunesien-eine-echte-revolution.html), dass der Aufstand in Tunesien »eine echte Revolution« sei, wurde ich von manchen Genossen aus Deutschland und der Türkei getadelt. Aber, die rasanten Entwicklungen in der arabischen Welt versuchen zu deuten und mit dem Begriff »Revolution« vorsichtig umzugehen, ist kein Beharren auf irgendwelche »doktrinären Vorstellungen von der Revolution«, ein »Luxus der idealen Welt« von Theoretikern – ich bin noch nicht mal Akademiker, geschweige denn ein Theoretiker. Es ist eher ein Nachfragen, ein Versuch zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen für die eigene politische Bewertung zu ziehen.
»Luxus« wäre, wenn wir aus der Bequemlichkeit unserer privilegierten Geographie heraus meinen, »die Araber hätten gerne unsere Probleme« und vergessen würden, dass die Aufrechterhaltung der vermeintlichen Freiheiten, des Wohlstands und der bürgerlichen Demokratien des Westens für den Nahen Osten und anderswo in der Welt Diktaturen, tyrannische Regime, Krieg, Zensur und Massenmord produziert hat. »Luxus« ist, mit eurozentristischer Brille über den »unzeitgemäßen Imperialismusbegriff« oder über die »Friedenspotentiale des Kapitalismus« zu sinnieren, während Bomben auf Menschen fallen.
Natürlich wollen die TunesierInnen und ÄgypterInnen oder andere, eine Gesellschaft haben wie unsere, »mit intakten Institutionen, mit Parlament und unabhängigen Gerichten und freier Presse«. (Robert Misik) Und wie gerne hätten sie sich mit unseren Problemen herumgeschlagen. Wer würde es ihnen verdenken können, angesichts der rund 1 Milliarde Menschen, die am Tag mit einem Euro oder weniger auskommen müssen oder der Kinder, die alle 6 Sekunden wegen den Folgen des Kriegs, der Armut, Krankheiten oder ökologischen Katastrophen einfach wegsterben? Die tunesischen Bootsflüchtlinge auf Lampedusa haben ja nicht aus Jux und Tollerei ihre Heimat verlassen. Wenn man bedenkt, wie sie inzwischen von den EU-PolitikerInnen behandelt werden, wäre es interessant zu erfahren, was sie jetzt über die Werte europäischer Demokratien, wie Menschenrechte, Gleichberechtigung und Gleichheit – für deren »Durchsetzung« sich Europa überall an Kriegen beteiligt – denken. Ausmalen könnten wir uns das, oder?
In Tunesien und Ägypten haben sich die Menschen erhoben, weil sie nicht mehr gewillt sind, so wie bisher zu leben und unterjocht zu werden. Ob sie ihrem Protest weiter Luft verschaffen und für weitergehende Forderungen auf die Straße gehen wollen, wird von ihren Entscheidungen abhängen. Unsere Aufgabe kann nur sein, sie dabei zu unterstützen und zu versuchen, die »Weiter-So-Politik« unserer Regierungen zu verhindern. Was ja eigentlich die ureigene Aufgabe der europäischen Gesellschaften ist.
Aber wenn wir meinen, dass das, was bisher erreicht worden ist, eine »Revolution« sei und paternalistisch wie wir im Westen so sind, den Völkern im Nahen Osten einreden, die bürgerlichen Demokratien nach europäischem Vorbild würden all ihre Probleme lösen, dann erweisen wir ihnen einen Bärendienst. Damit würden wir nur dazu beitragen, dass sich die gegenwärtigen Machtverhältnisse – von denen ja wir überzeugt sind, dass sie nicht gut für diese Länder sind –, selbst bei der Durchführung demokratischer Wahlen wieder festigen würden.
Schlussfolgerungen für europäische Linke
Jetzt gilt es, alle relevanten Gruppen der Opposition in Ägypten darin zu unterstützen, dass sie gegenüber der Militärjunta nicht schutzlos bleiben. Für sie wird es schwer sein, eine Dauermobilisierung gegen die militärischen Machthaber zu organisieren. Die Verhältnisse in Ägypten erlauben derzeit nur einen auszuhandelnden Übergang, in der die gegenwärtigen Machthaber und die oppositionellen Kräfte gegenüber stehen werden. Gerade darum brauchen die oppositionellen Kräfte Zeit und Unterstützung, sich organisieren zu können. Und sie brauchen deutliche Signale der demokratischen Weltöffentlichkeit.
Aus diesem Grund kann ich beispielsweise die stumme Haltung der deutschen Gewerkschaften nicht nachvollziehen. Die Militärs haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie die derzeitigen Streiks für die Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen nicht dulden werden. Die Aufgabe der europäischen Gewerkschaftsbewegungen wäre hier und jetzt, zugunsten der streikenden ArbeiterInnen in Ägypten Partei zu ergreifen und einen öffentlichen Druck auf die eigenen Regierungen zu organisieren.
Die gesellschaftliche wie politische Linke in Europa ist gehalten, ihre Solidarität mit den demokratischen Kräften Ägyptens mit einer klaren Absage an die bisherige Politik der EU-Regierungen, mit der sie den Nahen Osten als eine geostrategische Verfügungsmasse behandeln, zu manifestieren und für einen Politikwechsel in Europa zu kämpfen. Vorhandene parlamentarische und organisatorische Möglichkeiten müssen zur Unterstützung der Organisierung der oppositionellen Kräfte in Ägypten genutzt werden. Jede praktische Solidarität, jede Unterstützung der Opposition ist dringlich und wäre ein wichtiger Beitrag für die Demokratisierung des Landes. Für die Linke muss gelten, die Bekämpfung der Machtstrukturen in Ägypten als vordringlich zu sehen – selbst wenn dafür notwendig sein sollte, die Beteiligung von Teilen der alten Machthaber an einer neuen Regierung zu akzeptieren. Eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Demokratisierung wird womöglich noch Jahre andauern. Das Aufdecken der, von geostrategischen Vorteilen und Wirtschaftsinteressen geleitete Politik der EU-Eliten, die Aufklärung der europäischen Öffentlichkeit über wie wahren Ursachen der Probleme im Nahen Osten und eine praktizierte Solidarität auf gleicher Augenhöhe mit den demokratischen Kräften Ägyptens, ist das mindeste an Bringschuld der europäischen Linken.
Und eine klare Positionierung in dem israelisch-palästinensischen Konflikt! Dass ohne die Unterstützung des Mubarak-Regimes die Repressions- und Besatzungspolitik der israelischen Regierungen, welche ja bekanntlich allen UN-Resolutionen und dem Völkerrecht widersprechen, so nicht möglich gewesen wäre, sagen nicht nur israelkritische Stimmen. Es wäre mühselig und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, hier darauf hinzuweisen, dass das Schicksal der palästinensischen Gebiete die zentrale Frage der Konflikte im Nahen Osten ist. Oder wie zigmal geschehen, die Tragödie der PalästinenserInnen zu beschreiben, denen das Recht auf freie Reise auf eigenem Grund und Boden verwehrt wird.
Nein, die eigentliche Problematik liegt darin, dass die europäische Linke, die mit einem Lineal gezogenen Grenzen im Nahen Osten und das künstliche Produkt des Kapitalismus, die Nation und den Nationalstaat an sich als Gottgegeben hin nimmt. Müsste nicht die Linke, die ihre radikale, also an die Wurzel gehende und zugleich reale, also auf die Probleme im hier und jetzt orientierte Politik, stets aus der Perspektive der Schwächsten heraus formulieren? Darf dann eine solche linke Politik, monoethnisch bzw. monoreligiös ausgerichtete Nationalstaaten, die keinen Raum für ethnische und religiöse Minderheiten lassen, akzeptieren? Waren es nicht immer linke, die die Demokratie, als sich immer zu erneuernden Demokratisierungsprozess verstehend, daran gemessen haben, wie sozial, wie gerecht, wie emanzipatorisch sie aufgebaut und wie sie auf Frieden ausgerichtet ist? Wie kann dann die europäische Linke einen Staat, der den eigenen arabischen Staatsangehörigen die vollen BürgerInnenrechte verwehrt; aus religiöser Motivation heraus den Grund und Boden seiner Nachbarn zu israelischem Eigentum erklärt; nicht gewillt ist, UN-Resolutionen umzusetzen und sein nukleares Arsenal unter internationaler Kontrolle zu stellen; jegliche rechtsstaatliche Standards missachtend, gezielt »Staatsfeinde« exekutiert; Tausende ohne einen Gerichtsbeschluss inhaftiert; in den Besatzungsgebieten ein offenes Willkür- und Apartheidregime installiert hat und den Friedensvertrag mit Ägypten als ein reines strategisches Instrument seiner weiteren Militarisierung sieht, überhaupt als einen »demokratischen Staat« bezeichnen und für den Erhalt des, von westlichen Interessen diktierten Status quo sein?
Wenn die europäische Linke, die deutsche Linke im Besonderen, glaubhaft bleiben will, muss sie sich vor allem an ihren eigenen Werten messen lassen: Geschwisterlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit, freie und selbstbestimmte Entfaltung eines jeden Individuums und last but not least, ein Mehr an Demokratie. Und wer Antisemitismus, Judenfeindlichkeit, rassistische und religiös-fundamentalistische Bewegungen wirksam bekämpfen will, der muss sich für die sozial gerechte, gleichberechtigte und demokratische Teilhabe aller Menschen und für den Frieden einsetzen.
Daher bin der Auffassung – und das ist meine These –, dass die Schlüsselfrage der Konflikte im Nahen Osten die Freiheit des palästinensischen Volkes ist. Der beste Garant für die Sicherheit in der Region wird eine demokratische Union (oder Konföderation oder wie es auch immer heißen mag) sein, in der jüdische wie palästinensische Bevölkerungsteile frei, gleichberechtigt und selbstbestimmend zusammenleben, die Wunden der Vergangenheit heilen und die gemeinsame, friedliche Zukunft gestalten können.
Naiv? Unrealistisch? Wie naiv und unrealistisch müssen dann unter den gegebenen Verhältnissen unsere Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus sein! Im Gegenteil; erst aus dieser Perspektive sind wir in der Lage, die aktuellen sozialen Kämpfe zu führen und für reale Verbesserungen in den gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften zu streiten. So lassen sich auch mit der Vorstellung eines demokratischen Nahen Ostens, kleinere, aber nicht unwichtigere Schritte in Richtung eines Friedens bewerkstelligen.
Meines Erachtens gilt dieses auch für die aktuellen Bemühungen um die Demokratisierung Ägyptens. Es war bezeichnend, dass just an dem Donnerstagnacht, als Mubarak angekündigt hatte, nicht zurücktreten zu wollen, auf dem Tahrir Platz kaum jemand beachtet hat, dass die BewohnerInnen des Gaza Streifens wieder einmal Opfer von Bombardierungen der israelischen Armee wurden. Daher stellt sich m. M. n. heraus, dass solange die Protestbewegungen nationalstaatlich eingegrenzt bleiben und die Bewegungen sich der palästinensischen Frage nicht annehmen, solange die errungenen Freiheiten und demokratische Rechte keine echten Freiheiten und Rechte sein werden. Bei allem Respekt vor den Bewegungen in Tunesien und Ägypten, ist es eine Notwendigkeit hierauf hinzuweisen.
Im übrigen: es wäre eine wahre Revolution, wenn das neue, demokratische Ägypten die Grenze zum Gaza Streifen öffnen und den BewohnerInnen des Gaza Streifens die gleichen Freizügigkeitsrechte, wie die der ägyptischen StaatsbürgerInnen gewähren würde. Ich bin mir sicher, dass dann die Verhältnisse in der ganzen Region beginnen würden, sich grundlegend zu verändern.