Ich heiße Cem, das ist ein türkischer Name. Als ich zur Schule ging, hieß niemand in unserer Klasse so, die anderen hatten Namen wie Iris oder Hartmut, deutsche Namen halt. Aber ich bin wie sie in Deutschland geboren, um es genau zu sagen: in Bad Urach, einer schwäbischen Kleinstadt mit vielen Fachwerkhäusern. Meine Eltern sind als Gastarbeiter in den sechziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Beide haben viel gearbeitet. Deshalb hatte ich als Kind Tageseltern.
Das Ehepaar Rehm, das über uns wohnte, hat auf mich aufgepasst. Ich habe mich sehr wohl bei ihnen gefühlt, sie waren wie Oma und Opa für mich. Bei ihnen habe ich gelernt, Deutsch mit schwäbischem Dialekt zu sprechen. Frau Rehm hat für mich Spätzle gekocht, Herr Rehm hat mit mir Fahrradausflüge gemacht.
An den Wochenenden hatten meine Eltern mehr Zeit für mich. Alle zwei Wochen gab es am Wochenende vormittags eine Fernsehsendung in türkischer Sprache, das sogenannte Gastarbeiterprogramm. Es hieß „Ihre Heimat, unsere Heimat“. Das war unser Draht in die Türkei. Und Briefe natürlich. Internet gab es damals ja noch nicht, und das Telefonieren war viel zu teuer. Aber alle ein bis zwei Jahre haben wir Urlaub in der Türkei gemacht. Wir sind mit dem Auto hingefahren, eine furchtbar lange Fahrt war das.
Mischmasch aus Türkisch und Deutsch
Mit meinen Eltern habe ich Türkisch gesprochen, mit den Kindern anderer türkischer Gastarbeiterfamilien einen Mischmasch aus Türkisch und Deutsch und in der Schule natürlich Deutsch. Eigentlich war es toll, so beide Kulturen kennenzulernen. Nur manchmal gab es ein paar kleine Kulturkonflikte. Zum Beispiel was das Baden anging.
In unserem Haus gab es damals keine Badewanne. Man musste Wasser erst aufwärmen und es in einen Waschzuber schütten. Um Wasser zu sparen, hat das Ehepaar Rehm hintereinander im selben Wasser gebadet: zuerst der Opa, dann die Oma und schließlich ich. Das war damals wohl normal. Meine Mutter fand das allerdings unvorstellbar. In der Türkei gilt stehendes Badewasser nämlich als unsauber.
Und auch sonst habe ich manchmal ein paar Unterschiede beobachten können. Wenn wir am Wochenende Besuch bekamen oder ein Fest gefeiert wurde, war immer viel los bei uns. Der Fernseher lief, es gab viele Süßigkeiten, die Kinder durften lange aufbleiben. Oft bin ich einfach mitten in dem Trubel auf dem Sofa eingeschlafen. Das war bei meinen deutschen Freunden undenkbar. Die hatten pünktlich im Bett zu sein und durften auch nicht viel fernsehen.
Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass ich mich nicht ausgeschlossen fühle. Obwohl wir Muslime sind, hat sie beispielsweise immer einen Weihnachtsbaum aufgestellt, damit ich nicht in Verlegenheit käme, wenn mich meine deutschen Freunde danach fragten. Und Karneval habe ich auch immer mitgefeiert und mich verkleidet. Meist als Indianer, einmal auch als Cowboy.
„Ich fühlte mich immer wie alle anderen“
Ich hatte türkische und deutsche Freunde und fühlte mich immer wie alle anderen. Aber es gab einige Augenblicke, wo andere mich darauf stießen, dass ich anders war. Beispielsweise konnte ich fast nicht mit auf eine Klassenfahrt nach England, weil ich als Türke nicht einfach durch andere Länder reisen durfte. Meine Lehrerin konnte die Grenzbeamten zum Glück überreden.
Und manchmal haben mich einige Kinder verteidigt, wenn mich jemand beschimpfte, weil ich Ausländer war. Sie sagten: „Er kann doch nichts dafür, dass er Türke ist.“ Sie haben das bestimmt nett gemeint, aber mir wurde dadurch schon klar, dass „Türke sein“ bei manchen nicht sehr angesehen war.
Auf der Realschule wurde ich als Klassen- und auch als Schülersprecher gewählt. Damals wurde mir klar, dass man etwas bewirken kann, wenn man sich dafür einsetzt. Vielleicht waren das die ersten Schritte, die mich zum Politiker machten. Und als ein Freund mich mit 15 zu den Grünen mitnahm, beschloss ich, dort einzutreten. Ich habe das gemacht, weil die Partei sich für den Umweltschutz und für Frieden einsetzte.
Damals hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen, dass ich später der erste Deutsche türkischer Herkunft sein würde, der in den Bundestag gewählt wird.
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Protokoll: Alexandra Frank