Junge Migranten brauchen Vorbilder

Teil der Kultur: Türkische und arabische Zuwanderer. Foto: reuters
Am 2. November 2011 jährt sich das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Viele, die damals als so genannte Gastarbeiter für nur kurze Zeit kommen wollten, blieben hier, gründeten Familien. Heute leben sie, ihre Kinder, Enkel und Urenkel in ihrer deutschen Heimat. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach mit der Zeitung „Hürriyet“ über die Integration.
Hürriyet: Frau Bundeskanzlerin, die ersten Gastarbeiter kamen im Jahre 1955 aus Italien. Die türkische Migration begann vor 50 Jahren. Was bedeutet die türkische Migration für die Bundesrepublik Deutschland und welche persönliche Erfahrungen haben Sie mit der türkischen Wohnbevölkerung gemacht?

Angela Merkel: Ich freue mich, dass wir in diesem Jahr gemeinsam das 50-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei feiern können. Die Migranten der ersten Stunde haben damals viel zum wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik beigetragen und wir sind ihnen dankbar dafür. Heute lebt eine große Zahl türkischstämmiger Menschen in Deutschland: sie gehören zu unserem Land und seiner kulturellen Vielfalt. Zahlreiche türkischstämmige Unternehmer haben hier Arbeitsplätze geschaffen und bilden Jugendliche aus. Sie sind damit auch Vorbilder, wie wir sie für junge Migranten dringend brauchen.
Für mich ist klar: Die Integration junger Migranten,  ist eine der zentralen Aufgaben, die wir bewältigen müssen. Wie gut uns das gelingt, entscheidet nicht nur über die Lebensläufe dieser jungen Menschen, es entscheidet auch mit darüber, wie zukunftsfähig Deutschland ist. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass Türkischstämmige sich zwar weiterhin ihrem Herkunftsland verbunden fühlen – und das soll auch so sein – dass aber immer mehr von ihnen sagen, dass sie  in Deutschland leben und das ihr Zuhause ist.

Hürriyet: Obwohl die ersten „Gastarbeiter“ vor 55 Jahren kamen, redet man gerade in den letzten Jahren verstärkt von der Zuwanderung und Integration. Ist es so zu verstehen, dass man die Integration jahrelang nicht Ernst genommen hat?
Merkel: Man hat lange zu sehr darauf vertraut, dass Integration von selbst geschieht. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Heute wissen wir: Integration ist eine Anstrengung, zu der beide, der Zuwanderer wie auch die Gesellschaft, die ihn aufnimmt, beitragen müssen. Wenn man es schleifen lässt, handelt man sich viele Probleme ein – und beraubt die Zuwanderer noch dazu aller Chancen, in Deutschland voll am Leben teilnehmen zu können.  Seit ich Bundeskanzlerin bin, ist Integrationspolitik ein Schwerpunkt  meiner Arbeit. Wir haben das Thema ganz oben auf die politische Tagesordnung gesetzt – der Nationale Integrationsplan, die nunmehr vierIntegrationsgipfel  unter meiner Leitung und die Deutsche Islamkonferenz sind wichtige Schritte.
Das Prinzip unserer Integrationspolitik wird auch künftig „Fördern und Fordern“ heißen . Wir investieren viel in die Förderung, allein für Integrationskurse zum Beispiel haben wir von 2005 bis 2010 fast eine Milliarde Euro ausgegeben. Gleichzeitig fordern wir, dass die Migranten selbst sich aktiv bemühen, ein Teil dieser Gesellschaft zu werden, die Sprache zu lernen, sich zur  Rechtsordnung unserer Gesellschaft zu bekennen. Wenn wir friedlich und zu jedermanns Wohl zusammenleben wollen, dann geht das nur auf der Basis der im Grundgesetz verankerten Werte – der Menschenwürde, der Religionsfreiheit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Eine Integration, für die man sich anstrengen muss, war sicher für manchen anfangs unbequem. Aber heute sehen wir, dass Einbürgerungstests oder Sprachnachweise, die anfangs als Zumutung kritisiert wurden, längst akzeptiert sind und zahllosen Menschen ganz neue Chancen eröffnet haben.

Hürriyet: Alle Untersuchungen zeigen, dasss die Bildungs-und Ausbildungssituation der ausländischen, aber insbesondere der türkischen Kindern und Jugendlichen, obwohl es in den letzten Jahren sichtbare positive Entwicklungen gibt, immer noch sehr schlecht ist. Wie kann man diese verbessern, was tut die Bundesregierung dafür?
Merkel: Zweifellos hat sich das Bildungsniveau der jungen Migranten verbessert, aber zufrieden können wir mit diesen Fortschritten noch nicht sein. Jedem Jugendlichen, jeder Familie muss klar sein: Schul- und Berufsabschlüsse sind wichtige Voraussetzungen dafür, sein Leben in Deutschland erfolgreich gestalten zu können. Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien brauchen mehr  gezielte Förderung, qualifizierte Begleitung und Angebote, die auf ihre individuelle Lebenssituation zugeschnitten sind. Mit dem Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs wollen die Bundesregierung und die Wirtschaft auf diesem Gebiet neue Angebote machen.
Nur gibt es leider Grenzen dessen, was ein Staat dafür tun kann. Die allererste Verantwortung liegt immer noch bei den Eltern und in den Familien. Dort müssen Schule und Bildung wichtig genommen werden, dort muss die Förderung der Kinder ansetzen – zum Beispiel indem so früh wie möglich darauf geachtet wird, dass sie einwandfreies Deutsch lernen. Kinder, die schlecht Deutsch sprechen, rennen oft jahrelang in der Schule einem Rückstand hinterher. Deshalb ist es so wichtig, dass die Kinder auch in Kindertageseinrichtungen und in den Kindergarten gehen und früh die deutsche Sprache lernen.

Hürriyet: Die Arbeitslosigkeit unter Berliner Türken liegt über 40 Prozent. Wie kann man diesen Zustand beseitigen? Macht diese Zustand Ihnen kein Kopfschmerzen?
Merkel: Solche Zahlen machen mir große Sorgen. Sie müssen uns allen, auch den Migrantenorganisationen große Sorgen machen, denn hinter solchen Zahlen liegt ein erhebliches soziales Problem. Wir müssen mit aller Kraft daran arbeiten, die Bildungs- und Qualifikationschancen zu verbessern. Nur so erhöhen wir die Chancen, dass junge Migranten eine gute Arbeit finden. Positiv ist, dass immer mehr Unternehmen und Institutionen jetzt verstärkt auf die Ausbildung und Beschäftigung von Migranten setzen. Schon über 1000 Arbeitgeber haben bundesweit die Charta der Vielfalt unterzeichnet.
Es gibt also einiges, das der Staat oder die Wirtschaft tun können. Aber ich muss es noch einmal sagen: Grundvoraussetzung sind auch hier ausreichende Sprachkenntnisse, und Lernbereitschaft.

Hürriyet: Trotz Anti-Diskriminierungsgesetz erleben in diesem Lande die Menschen mit auslaendischen Namen bei Wohnungs, Arbeits und Ausbildungsplatzsuche Diskriminierungen. Was kann man dagen unternehmen?
Merkel: Die Bundesregierung wendet sich gegen jede Form von Diskriminierung. Sie ist gesetzlich verboten, dies gilt auch und gerade bei Ausbildung und Beruf. Durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist d Diskriminierungsverbot noch stärker in d Bewusstsein der Bevölkerung gerückt. Benachteiligte können sich jetzt rechtlich besser wehren, wenn wirklich ein nachweisbarer Fall von Diskriminierung vorliegt.
Aber Gesetze können nicht allein den Alltag ändern und Diskriminierung in jedem Einzelfall verhindern. Wir müssen ein Klima des Respekts schaffen und vor allem den positiven Beispielen  viel mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Am Ende wird es nur besser, wenn immer mehr Menschen persönlich die Erfahrung machen, dass Menschen jeder Herkunft und jeden Glaubens gut miteinander leben und arbeiten können.

Erschienen in „Hürriyet“