Oral History-Projekt Dersim 38

Für das Oral History-Projekt Dersim 38

 

Rundbrief_Buchmesse_2011

Kommentare

Eine Antwort zu „Oral History-Projekt Dersim 38“

  1. Avatar von Nadja Thelen-Khoder
    Nadja Thelen-Khoder

    „Spuren der Jenseits schreienden Gegenwart“
    Erinnerungskultur im Düsseldorfer Landtag

    Am 13. Mai 2013 fand die Veranstaltung „Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft – ,Was weißt Du über Dersim?’“ im SPD-Fraktionssaal des Düsseldorfer Landtages statt. Im Vorfeld wurde die Ausstellung „Spuren der Jenseits schreienden Gegenwart“ von Ibrahim Coskun eröffnet, die siebzehn großformatige Ölbilder des 1955 in Dersim geborenen und mit sechszehn Jahren nach Deutschland eingereisten Künstlers zeigt [1].

    „Die Menschen, die in NRW eine neue Heimat finden, haben immer auch ihre Geschichte im Gepäck. Die Vielfalt des Geschichtsbewusstseins in der Migrationsgesellschaft wird von der Politik allerdings kaum wahrgenommen. Die Rahmenbedingungen für Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung berücksichtigen die „Geschichte(n)“ der Migrantinnen und Migranten bislang nur unzureichend.
    Die Veranstaltung geht daher der Frage nach, wie Perspektiven für ein gemeinsames interkulturelles „Erinnern“ eröffnet werden können. Wie ist der Vielfalt von Geschichte in der Migrationsgesellschaft gerecht zu werden?
    Ausgangspunkt der Diskussion soll das Oral-History-Projekt der „Föderation der Dersim-Gemeinden in Europa e.V.“ (FDG) sein. Die FDG dokumentiert das 1937/38 in Dersim verübte Massaker und macht die Berichte einer wissenschaftlichen Auswertung zugänglich. Die Erfahrungen des „Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland (DOMiD) e.V.“ binden dieses konkrete Projekt in die allgemeine Entwicklung des Umgangs mit der Erinnerung von Migrantinnen und Migranten ein. Dr. Burak Copur vom Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen erörtert im Anschluss mögliche Perspektiven einer deutsch-türkischen Erinnerungskultur.“ So stand es auf der Einladung [2].

    Bernhard „Felix“ von Grünberg, MdL, Integrationspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, begrüßte die Teilnehmer und betonte die Notwendigkeit, dass die Darstellung der türkisch-deutschen Geschichte sich auch im Geschichtsunterricht an deutschen Schulen ändern müsse. Die Schulbücher folgten noch immer der offiziellen türkischen Darstellung, die die Völkermorde und Massaker des letzten Jahrhunderts weitgehend unbeachtet lassen.
    Dersim sei aber „eine der großen Wunden in der türkischen Geschichte“, und bei seinem Besuch habe er dort „50% Soldaten und Polizisten“ gefühlt, „die die anderen 50% bewachen“. Überall seien Wachtürme zu sehen, und dem gewählten Bürgermeister sei sogar der Paß entzogen worden. Man müsse sich auf einen neuen „Weg des Erinnerns und der Akzeptanz“ begeben.

    Marissa Turaç erteilte danach Ismail Yüceer von der Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V. (FDG) [3] das Wort, der kurz die Geschichte und die Arbeit der FDG vorstellte. Dazu gehören „die zunehmende Seniorenarbeit auch in Form von ehrenamtlicher nachbarschaftlicher Hilfe“, die Pflege der Muttersprache(n) [4] Kırmancki/ Zazaki und Kurmanci (Kurdisch) auch durch Sprachkurse [5] (Hierbei verwies er auf die UNESCO, die 2003 feststellte: „Die Muttersprache ist das Fundament für die Identität eines Menschen“), die Photoausstellung am 29. April in Berlin [6], die Initiative Mor Gabriel zum Erhalt des christlichen Klosters und das Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“. Zum jährlich stattfindenden „Europa Dersim Kulturfestival“ [7] lud er die Teilnehmer zum 15 Juni 2013 nach Gladbeck ein.

    Dann sprach Ali Doğan, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschlands e.V. [8] und erwähnte auch die „Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt“ [9]. Die „Integration oder besser – wie ich meine – Inklusion“ sei außerordentlich wichtig. Die Kultur in der Türkei sei „so heterogen wie in kaum einem anderen Land“, man spreche aber fast ausschließlich von den „4,3 Millionen Muslimen, darunter 2,9 Millionen Türken“. Dabei werde man weder der religiösen Vielfalt (Muslime, Aleviten, Christen u.a.m.) noch dem Vielvölkerstaat Türkei gerecht.
    Die aktuelle Schulbuch-Debatte müsse die unterschiedlichen Völker, ihre Sprachen und Religionen berücksichtigen und auch die Verbrechen in der türkischen Geschichte aufarbeiten.

    In seiner Rede [10] über das „Oral History Projekt Dersim 1937/38“ [11] betonte Yaşar Kaya von der FDG dessen Dringlichkeit. Während die Bevölkerung der Türkei seit 1980 von 40 auf 72 Millionen Einwohner gestiegen sei, habe sich die Bevölkerungszahl Dersims im gleichen Zeitraum durch Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung auf 79000 fast halbiert; viele Dörfer seien zerstört, Wälder in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet worden.
    „1938 wurde eine gesamte Generation ihrer Mütter und Väter beraubt. Auch die Teilnehmer dieser Versammlung hatten nicht die Möglichkeit, ihre Großmütter, Großväter und ihre nahen Verwandten kennenzulernen. Viele von uns sind ohne ihre Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen aufgewachsen. Kaum ein Volk weiß so gut wie das in Dersim, was es bedeutet, ohne Vater, Mutter und nahe Verwandte aufwachsen zu müssen.“
    „In Deutschland gibt es viele Bibliotheken und Museen, aber kein einziges hat auch nur eine kleine Ecke für die Geschichte Dersims.“ Es sei aber nicht nur für die Opfer und ihre Nachfahren wichtig, ihre Geschichte(n) zu erhalten und kennenzulernen, sondern auch für den gesellschaftlichen Frieden allgemein: „Wie oft führen Unwissen und Missverständnisse zu Spannungen, sei es in der Türkei oder auch hier in Deutschland. Wenn Schüler in deutschen Schulen keine Möglichkeit haben, sich umfassend und ausgewogen über die türkische Geschichte zu informieren, wird es immer wieder zu Streitigkeiten kommen, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind. Man stelle sich vor, es gäbe keine Literatur oder andere Aufzeichnungen zum Völkermord an den Juden in Deutschland – wie sollten deutsche Schüler die Geschichte ihres Landes begreifen, mit ihr bzw. als Juden in Deutschland gemeinsam in Frieden leben?“
    Für das Oral History Projekt Dersim’38 seien in Bildungsseminaren über die Methodik der Oral History analog zu einem Leitfaden der „Shoah-Foundation“ von der FDG Fragebögen erarbeitet und verschiedene Kampagnen, TV-Programme und über 40 Informationsabende durchgeführt worden. Inzwischen habe das Projekt seit 2009 in acht Ländern in über 40 Städten 350 Zeitzeugen interviewt, „unter ihnen auch zwei Soldaten, die damals ihren Militärdienst in Dersim geleistet haben.“

    Ausschnitte aus einem solchen Zeitzeugen-Interview (deren Durchschnittsdauer 88 min beträgt) konnten die Teilnehmer dann sehen: Das „Büro für Menschenrechte und Minderheiten-Angelegenheiten Berlin und Brüssel (BMMA)“ [12] präsentierte Mehmet Ali Çavuş [13] (deutsche Übersetzung gesprochen von Christian Zimmermann), der von seinem Militärdienst in Dersim erzählte. Als einziger Alevit unter den türkischen Soldaten aus Angst selbst an den grauenhaften Massakern beteiligt gewesen, quälten ihn seine Erinnerungen und deshalb breche er das Schweigen.

    Im Anschluß an den Film meldete sich Hüseyin Kaya, ein Überlebender von „Dersim ’38“ und Ehrenvorsitzender der FDG, zu Wort und las das Gedicht „Wenn ich sterbe“ von Gül Witt [14], das er mehrfach durch die Worte „In Dersim“ ergänzte.
    „Leider haben wir unsere Nachbarn verloren“, erzählte er. Von den jetzigen 79000 Einwohnern Dersims seien 23000 Polizisten, Soldaten und Amtspersonen, die nicht in Dersim geboren seien. „Dersim ist die einzige Region in der Türkei, in der vorwiegend Aleviten sind“. … Keiner interessierte sich für unsere Geschichte.“ „Im Schatten des Zweiten Weltkrieges“ habe man Dersim vergessen und tue so, „als wäre gar nichts passiert“. Helga Hirsch habe durch ihren Artikel [15] einen großen Beitrag zur öffentlichen Diskussion geleistet. Die Entschuldigung von Ministerpräsident Recep Tayyib Erdoğan vom 23.11.2011 [16] habe „eine ganz große Bedeutung“, der nun aber noch Taten folgen müssten: Das „Oral History Projekt Dersim’38“ trügen die Dersimer zu 100% selbst; „wir haben nirgendwo auch nur einen Cent bekommen.“

    Arnd Kolb, Geschäftsführer vom „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOM iD) e.V.“ [17] hielt einen Vortrag unter dem Titel „Fremde Heimat – Geteilte Erinnerung – Neue Ansichten“. 1990 gegründet sei die erste große Ausstellung 1998 in Essen bahnbrechend gewesen. Habe man sich zunächst ausschließlich mit Arbeitsmigration beschäftigt, sei ab 2002 Migration zunehmend im gesellschaftlichen Kontext gesehen worden. Die Ausstellung „Geteilte Heimat“ zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens sei ein erster Schritt zur „institutionellen Erinnerungskultur jenseits nationales Denkmuster“ gewesen.
    Die Fremdenfeindlichkeit zu Beginn der 90er Jahre sei „migrationsgeschichtlich eine bleierne Zeit“ gewesen. Inzwischen verfüge DOMiD über 70000 Datensätze, und in „gleichberechtigter Partnerschaft“ verfüge man über vieles in zwei Sprachen. Arnd Kolb lud die Teilnehmer zu Führungen im Dokumentationszentrum ein, in dem es auch Bücher von Sultan Abdal gebe.
    „Es fehlt ein Zentrales Integrationsmuseum hier in Deutschland“ und damit noch immer „eine angemessene öffentliche Darstellung der Geschichte, Kunst und Kultur“. Inzwischen sei aber „die Öffentlichkeit sensibilisiert für die eigene Vielfalt“.

    Dr. Burak Copur vom Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen [18] zeigte danach seine Präsentation zu „Herausforderungen und Chancen einer deutsch-türkischen Erinnerungskultur“. Er zitierte Prof. Dr. Jan Assmann, den „Papst der Erinnerungskultur“, und definierte „Erinnerungskultur“ als „kollektiv geteiltes Wissen“; „shared memory“ sei hingegen die „geteilte separate Erinnerung“ verschiedener Gruppen, und „Doppelgedächtnis und Erinnerungslücken“ spielten dabei eine wesentliche Rolle.
    Es gelte, ein „neues Wir“ zu erarbeiten; gerade die türkisch-deutsche Geschichte habe viele Berührungspunkte, für die er Beispiele wie Philipp Holzmann und die „Bagdad-Bahn“ [19] und General Liman von Sanders („Löwe von Gallipoli“ [20]) anführte; auch die Brandanschläge von Mölln und Solingen (1992 und 93) [21] gehörten zur deutsch-türkischen Geschichte.
    Viele hätten 2011 den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens als „eine Art Betriebsjubiläum“ gefeiert; man habe nicht an Kunst und Kultur gedacht, sondern vielmehr an den „nimmermüden fleißigen türkischen Kumpel“. „Ein interkulturelles Geschichtsbewusstsein ist kaum angekommen“ und „Es gibt kaum historische Orte, die man miteinander teilt“. Vergleichendes Erinnern könne den Blick schärfen und werde dann auch nicht „zur Relativierung von Massakern und Verbrechen“ führen.

    Zum Abschluß bedauerte Herr von Grünberg, dass DOMiD noch immer im Sozial- und nicht im Kulturetat auftauche; Geschichts- und Kulturarbeit werde noch immer nicht gewürdigt. Was es bedeute, sich in Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung friedlich und kontinuierlich für gesellschaftlichen Frieden zu engagieren, könne sich manch einer gar nicht vorstellen.
    Und er erinnerte an den einmillionensten „Gastarbeiter“, dem man bei seiner Ankunft in Köln-Deutz ein Motorrad schenkte. Als man seinen Namen über die Lautsprecher am Bahnhof ausrief, versteckte der sich zunächst – Portugal war zu der Zeit eine Militärdiktatur, und Armando Rodrigues de Sá fürchtete sich (22).

    Inzwischen haben die „Gastarbeiter“ von damals auch hier ihre Wurzeln geschlagen, haben Familien gegründet, die ihrerseits auch wieder Familien gegründet haben. Gott sei Dank sind viele hier geblieben, und Deutschland begreift sich endlich als Einwanderungsland.

    Und so ist es jetzt an der Zeit, das „neue Wir“ [23] zu erarbeiten, von dem Dr. Copur gesprochen hat – das neue „Wir“, das vorsichtig miteinander umgehen muß, weil wir jahrzehntelang in dem „Wir-und-die-Anderen“ erzogen worden sind, in Schulbüchern und Gotteshäusern, an Stammtischen und Universitäten, in unseren mehr oder weniger kleinen Gruppen voller Unwissen und Vorbehalte, zusammen mit unseren Traumata und Ängsten und mit einem „Sie“, das uns so lange gegenüberstand.

    Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur, mit Gedenktagen und Gedenkfeiern, mit Zeitzeugen-Interviews, neuen Schulbüchern, Referaten und Diplomarbeiten [24] und mit sehr viel Verständnis für die Empfindlichkeiten auf allen Seiten.

    Anmerkungen:

    (1) Ibrahim Coskun wurde 1955 in Dersim geboren und kam mit sechszehn Jahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Der junge Familienvater nahm nach seiner Ausbildung zum Maschinenschlosser ein Fernstudium der Freien Künste an der Kunstakademie in Hamburg auf und hatte seine erste Einzelausstellung 1984 in Schweinfurt. Im gleichen Jahr reiste er in die Türkei, wo er festgenommen wurde und Ausreiseverbot erhielt. Danach wurde er Mitbegründer des türkischen Menschenrechtsvereins. 1989 floh er aus der Türkei und wurde ein Jahr später Initiator und Gründungsvorsitzender des Vereins Internationaler Bildender Künstler e.V. (IK) in Bielefeld.
    Seit 1984 hatte Ibrahim Coskun verschiedene Einzel- und Gruppenausstellungen seiner Gemälde, Fotografien, Skulpturen und Installationen in Deutschland, der Türkei, Luxemburg und Belgien. Seine Arbeiten hängen z. T. in bedeutenden öffentlichen Sammlungen. Siehe
    (2)
    (3) http://www.fdg-dersim.org
    (4)
    (5)
    (6)
    (7) und
    (8)
    (9)
    (10) Rede von Yaşar Kaya (FDG) zum Oral History Projekt Dersim 1937/38 am 13.5.2013 im Düsseldorfer Landtag

    (11)
    (12)
    (13)
    (14)
    (15) http://www.welt.de/kultur/history/article13729423/Das-vergessene-Massaker-der-Tuerken-an-den-Aleviten.html
    (16)
    (17)
    (18) ; 2012 Promotion und Veröffentlichung der Doktorarbeit „Neue deutsche Türkeipolitik der Regierung Schröder/Fischer (1998-2005)“
    (19)
    (20) Liman von Sanders war General, als Vizeadmiral im Ersten Weltkrieg „Verteidiger der Dardanellen“, später Oberbefehlshaber der Türkischen Heeresgruppe F von 19.2.1918 bis 28. Januar 1919.
    (21)
    (22)
    (23)
    (24) und (Diren Yeşil, Vorsitzende der FDG, letzter Abschnitt)