Die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist bedroht

Aufruf an die Öffentlichkeit !

Die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist bedroht – regierungskritische Journalisten werden mit Hilfe von Sondergerichten verfolgt und eingeschüchtert!

11. März 2011

Wir, als europäische Politiker/innen, die aus der Türkei stammen, sind wir tief besorgt über die systematische Verfolgung kritischer Journalist/innen und über die Missachtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Grundprinzipien in der Türkei.

Die Sondergerichte, die nur für Ausnahmesituationen und für schwere politische Straftaten errichtet wurden und deren Auflösung die EU seit Jahren verlangt, haben bisher 63 Journalisten wegen ihrer kritischen Berichterstattung und Publikationen inhaftiert. Die Inhaftierungen finden im Rahmen der Ermittlungen gegen das mutmaßliche Terrornetzwerk „Ergenekon“ statt. Die jüngste Inhaftierung der Journalisten Nedim Şener und Ahmet Şık, allseits als politisch unabhängige und stets sachliche Berichterstatter und Autoren bekannte Journalisten, zeigt das Ausmaß der Gefahr, der regierungskritische Journalisten und Autoren ausgesetzt sind.

Der ehemalige Polizeipräsident der Provinzstadt Eskişehir Hanefi Avcı, wurde nach dem Erscheinen seines Bestsellers inhaftiert, weil er in seinem Buch die rechtswidrigen Aktivitäten der islamistischen „Gülen Bewegung“, insbesondere deren Versuch, den Geheimdienst und den Polizeiapparat der Türkei im Sinne ihrer Organisation zu unterwandern, ausführlich belegte.

Die im Rahmen der „Ergenekon-Ermittlungen“ in Nacht- und Nebelaktionen inhaftierten bekannten Journalisten Mustafa Balbay und Tuncay Özkan befinden sich ebenso wie hunderte weitere Personen seit rund drei Jahren ohne eine rechtsgültige Verurteilung in Untersuchungshaft.

Jeder Staat hat das Recht, mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen Straftäter vorzugehen. Dies darf jedoch nicht als Vorwand für die Verfolgung und Unterdrückung von Regierungskritikern und der Opposition missbraucht werden.

Die Regierung des Ministerpräsidenten Erdoğan hat offensichtlich Schwierigkeiten mit kritische Presse, will keine Kritik von Wissenschaft, Gewerkschaften, ja nicht einmal von Arbeitgeberverbänden zulassen.

Eine Reihe von Tageszeitungen und Fernsehanstalten wurden mit Staatskrediten von regierungsnahen Kreisen bereits übernommen. Unter dem systematischen Druck der Regierung wurden namhafte Kolumnisten, u.a. der meistgelesenen Tageszeitung Hürriyet, entlassen, zum Beispiel Emin Çölaşan, Bekir Coşkun und Oktay Ekşi. Zahlreiche kritische Fernsehsendungen wurden auf Druck der Regierung ebenfalls aus dem Programm genommen, so auch die sonntägliche Talkrunde der Journalistin Ruhat Mengi bei Star-TV. Der Journalistenverband der Türkei hat bereits in vielen Großstädten des Landes gegen diese massive Einschränkung der Pressefreiheit protestiert.

Diese Verfolgungsmaßnahmen und Einschüchterungsversuche der AKP-Regierung gehen selbst dem US-Botschafter in Ankara zu weit: „Hier wird von Pressefreiheit gesprochen, aber die Journalisten werden inhaftiert, dies kann ich nicht verstehen“, sagte er kürzlich und erntete prompt heftige Kritik vom Ministerpräsidenten Erdogan.

Ministerpräsident Erdoğan versuchte sogar den größten Industrie- und Arbeitgeberverband der Türkei (TÜSIAD) mit der Drohung einzuschüchtern: „Wer nicht auf unser Seite steht, wird beiseite gefegt“.

Laut offiziellen Angaben werden die Telefone von 80.000 Menschen abgehört, viele davon illegal und ohne jegliche Rechtsgrundlage. Die Abhörprotokolle dienen dann als Hauptbeweismittel bei Prozessen oder werden regierungsnahen Medien zugespielt, ohne Rücksicht auf die Privatsphäre der Betroffenen.

In der Türkei wird von einem „Angst- und Polizeistaat“ gesprochen. Jeder, der sich regierungskritisch äußert, kann jeder Zeit willkürlich unter dem Verdacht der „Volksverhetzung und der Mitgliedschaft im mutmaßlichen „Ergenekon-Netzwerk“ festgenommen und jahrelang ohne Verurteilung inhaftiert werden. So erging es bereits mehreren Hundert Menschen, die seit Monaten und teilweise Jahren in Untersuchungshaft sitzen.

Der Verband der türkischen Richter und Staatsanwälte, die Rechtsanwaltskammer und viele namhafte Juristen warnen vor einer Aufhebung der Gewaltenteilung und Politisierung des Justizwesens. Damit ist die Unabhängigkeit der Justiz extrem bedroht.

Die Türkei erlebt derzeit eine zunehmende Polarisierung und Spaltung, die uns große Sorgen bereitet. Sie gefährdet die politische Stabilität und vor allem die Achtung der Menschenrechte, der Presse- und Meinungsfreiheit und die Zukunft der Demokratie und des Rechtsstaates.

Menschenrechte sind universale Rechte und sie sind nicht teilbar. Deshalb bitten wir vor allem die Menschenrechtsorganisationen, die Menschenrechtsausschüsse der Parlamente. amnesty international, die Journalisten-Verbände, die Medien, aber auch die Freunde der Türkei, die Entwicklung kritisch aufmerksam zu verfolgen.

Zeigen Sie sich solidarisch und ergreifen Sie Partei für die Achtung der Menschenrechte, der Presse- und Meinungsfreiheit und für einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat! Diese Rechte sind nicht verhandelbar!

Unterzeichner des Aufrufes:

Hüseyin Arac, Abgeordneter des Dänischen Parlaments

Filiz Demirel, Abgeordneter der Bürgerschaft von Hamburg

Hasan O. Kamber, Abgeordneter des Kantons Basel

Prof. Dr. Hakkı Keskin, 2005-2009 MdB und Mitglied des Europarates

Dilek Kolat, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin

Alev Korun, Abgeordnete des Wiener Parlaments

Özcan Mutlu, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin

Mustafa Kemal Öztürk, Mitglied der Bürgerschaft von Bremen

Filiz Polat, Abgeordneter des Parlaments von Niedersachsen

Ülker Radziwill, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin

Serkan Tören, Mitglied des deutschen Bundestages

Arif Ünal, Abgeordneter desLandtages NRW

Turgut Yüksel, ehm. Mitglied des Hessischen Landtages.