Erdogan macht Merkel zur Fürsprecherin

Der türkische Premier Erdogan mahnt in Berlin Fortschritte bei den EU-Verhandlungen an und nennt die Integration „sehr wichtig“. Ankara fühlt sich seit geraumer Zeit im Beitrittsprozess hingehalten.

BERLIN –

Die Türkei erwartet von Deutschland eine stärkere Unterstützung auf ihrem Weg in die Europäische Union. Nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel hob Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin die „exponierte Lage“ der Bundesrepublik in der EU hervor und bat um Fürsprache: „Es darf keine Verlangsamung des Beitrittsprozesses geben.“

Ankara fühlt sich seit geraumer Zeit bei dem im Jahr 2005 eingeleiteten Beitrittsprozess von seinen Partnern hingehalten. Die in insgesamt 35 Themen-„Kapitel“ unterteilten Verhandlungen stocken aus mehreren Gründen: weil zahlreiche Dossiers irgendwie mit der Zypern-Frage verknüpft werden, bei der sich sowohl das EU-Mitglied Zypern stur zeigt als auch die Türkei selbst, die den Nordteil der Mittelmeerinsel kontrolliert. Und weil mehrere Alt-Mitglieder, allen voran Frankreich, die Türkei schlichtweg nicht im 27-er Club sehen wollen.

Seinem Land sei eine Vollmitgliedschaft in Aussicht gestellt worden, und dieses „Versprechen“ müsse gehalten werden, betonte Erdogan. Merkel, die wie auch die große Mehrheit von CDU und CSU diesem Anliegen im Grunde ablehnend gegenüber steht, sicherte ihrem Gast Fairness zu. Die Beitrittsverhandlungen sollten vereinbarungsgemäß „ergebnisoffen“ geführt werden. Sie stellte auch in Aussicht, dass demnächst weitere Beitrittskapitel geöffnet werden könnten; diese Bemerkung kann durchaus als Zugeständnis gegenüber Ankara gewertet werden, da etwa Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy in diesem Punkt ein klares Nein propagiert.

Die Kanzlerin machte keinen Hehl daraus, dass für den Stillstand in der Zypern-Frage mehrere Seiten mitverantwortlich seien. Sie werde bei einem Besuch der Insel im kommenden Januar „eine hilfreiche Rolle“ Deutschlands anbieten und dabei auch „sehr klar“ mit der Regierung der südlichen (der EU angehörenden) Republik reden. Die Türkei setzt seit Jahren das sogenannte Ankara-Protokoll nicht um und verweigert der griechischen Republik Zypern damit den Zugang zu ihren Häfen und Flughäfen. Die Republik wiederum sperrt sich seit ihrem EU-Beitritt 2004 dagegen, dem Nordteil seit langem zugesagte Handelserleichterungen zu gewähren.

In einer Umfrage lehnt eine klare Mehrheit der Bundesbürger einen EU-Beitritt der Türkei ab. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid für Bild am Sonntag sprachen sich 69 Prozent der Befragten gegen einen EU-Beitritt Ankaras aus. 27 Prozent waren dafür. Besonders groß ist die Ablehnung der Umfrage zufolge bei Senioren sowie den Anhängern von CDU und CSU.

Merkel und Erdogan kündigten eine kritische Bilanz zum Stand der Integration an. Der 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens für türkische Gastarbeiter im Oktober 2011 solle zum Anlass genommen werden, den Blick auch auf „die unverkennbar bestehenden Probleme“ zu lenken, sagte Merkel. Erdogan machte deutlich, dass die Integration seiner Landsleute in Deutschland „sehr wichtig“ sei und dass „Defizite“ abgebaut werden müssten. Er appellierte an die hier lebenden Türken, neben ihrer Muttersprache unbedingt auch Deutsch zu erlernen sowie den Werten in ihrem Gastland „Respekt“ zu zollen.

Von seiner vor knapp zwei Jahren bei einem Auftritt in Köln gemachten Warnung vor einer „Assimilation“ war bei Erdogan jetzt keine Rede mehr. Dafür lobte er in den höchsten Tönen, dass Bundespräsident Christian Wulff kürzlich „Realitäten“ in Bezug auf die Rolle des Islam in Deutschland zur Sprache gebracht habe.

Merkel bat Erdogan nach Angaben aus Regierungskreisen darum, gegen Zwangsverheiratungen junger Türkinnen vorzugehen. Gesprächsbedarf bestehe daneben, was die Kontrolle über Islamschulen in Deutschland sowie die Terrorismusbekämpfung betreffe. Auch das Anliegen Ankaras nach umfassenden Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger, die in die EU reisen wollen, sei noch nicht spruchreif, hieß es.

Quelle: FRANKFURTER RUNDSCHAU


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