Wo Sarrazins Thesen zur Integrationsverweigerung ins Leere laufen – von Hannes Stein
Bilder aus einer muslimischen Diaspora, für die die Trennung von Staat und Religion ebenso selbstverständlich ist wie das Credo des freien Marktes.
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Über Thilo Sarrazin und sein umstrittenes Buch können wir von hier aus nichts sagen – weder im Guten noch im Bösen. Das Werk wurde noch nicht ins Englische übersetzt, es liegt nicht bei „Barnes and Noble“ herum. Allerdings kann man jenseits des Atlantiks immerhin ein paar Dinge zu dem großen Thema „türkische Diaspora“ anmerken. Dabei geht es, nota bene, nicht um Türken in deutschsprachigen Ländern, sondern um Türken in Amerika.
Es gibt nicht allzu viele von ihnen, aber es gibt sie – im Bundesstaat Pennsylvania etwa liegt ein bedeutendes Ballungsgebiet. Ein Freund kennt die türkische Gemeinschaft dort gut und berichtet Folgendes: Türken in Amerika sind in der statistischen Regel meistens Rechtsanwälte, Ärzte, Universitätsprofessoren oder schwerreiche Unternehmer. Ihre Kinder schicken diese Leute selbstverständlich auf ein gutes College; undenkbar wäre für sie, dass die Kinder vorzeitig die Schule abbrechen.
Viele dieser amerikanischen Türken sind gläubige Muslime. Manche zählen zu den Anhängern von Fethullah Gülen, einem Imam, der in Pennsylvania im selbst auferlegten Exil lebt, eine stockreaktionäre Theologie vertritt, gleichzeitig allerdings Marktwirtschaft und Bildung nicht für Werkzeuge des Teufels hält. Jene türkische Flottille, die von radikalen Muslimen ausgerüstet wurde und unter dem Vorwand der humanitären Hilfe den Konflikt mit Israel suchte, hat Fethullah Gülen seinerzeit öffentlich verurteilt: Wer den Palästinensern helfen wolle, urteilte er, solle gefälligst mit den israelischen Behörden zusammenarbeiten.
Die türkischen Muslime, meint unser Freund, akzeptierten die Trennung von Staat und Religion. Ihr Glaube sei ihnen Privatsache. Der einzige gravierende Gesetzesverstoß, dessen sie sich schuldig machten, sei wohl, dass sie manchmal ihre Steuern nicht pünktlich bezahlten. Auf die Türken in Deutschland schauten sie mit Verachtung herab.
Unser Freund arbeitet an hoher Stelle für die Politmaschinerie der Demokratischen Partei, außerdem ist er Jude. Neulich wollten seine türkischen Gesprächspartner von ihm wissen, wie die jüdische Lobby es geschafft habe, so erfolgreich zu sein. Sie, die Türken, würden es den Juden gern nachmachen.
An dieser Stelle müssen wir sofort einschieben, dass das Wort „Lobbyarbeit“ in Amerika kein schmutziges Wort ist. Die Exilkubaner haben eine Lobby, auch die Vogelschützer, die Ölmagnaten und die Befürworter der Schwulenehe. Warum sollten ausgerechnet die Juden keine Lobby haben? Unser Freund versprach den Türken, dass er ihnen helfen wolle, sich als Interessengruppe zu organisieren.
Nun sei ein kleiner Themensprung gestattet: Vor 16 Jahren erschien in Amerika ein Buch mit dem Titel „The Bell Curve“ , die Autoren waren Richard J. Herrnstein und Charles Murray. In jenem Buch stand, sehr kurz gefasst, dass beruflicher Erfolg vor allem auf Intelligenz zurückzuführen sei (nicht auf soziale Faktoren), dass die Intelligenz in der amerikanischen Bevölkerung ungleich verteilt sei und dass manche Bevölkerungsgruppen (Schwarze, Latinos) messbar weniger intelligent seien als andere (Asiaten, Juden). Ob das auf genetische Ursachen zurückzuführen sei, ließen Herrnstein und Murray in der Schwebe.
Das Buch wurde sofort zum Bestseller – und zum Gegenstand einer heftigen Kontroverse, an der wir uns hier nicht beteiligen wollen. Wir möchten nur trocken feststellen: Türken kommen in „The Bell Curve“ nicht vor. Kämen sie vor, würden sie bestimmt unter den klügsten Menschen in Amerika rangieren. Eine soziologische Untersuchung müsste außerdem zu dem Ergebnis kommen, dass Türken, die einem reaktionären Theologen ihr Ohr leihen, sich besonders gut dazu eignen, in einer westlichen, demokratischen Gesellschaft integriert zu werden. (Hannes Stein/DER STANDARD, Printausgabe, 15.9.2010)
Hannes Stein, geboren 1965 in München, Journalist und Buchautor, lebt zurzeit in Brooklyn und schreibt regelmäßig für die Tageszeitung „Die Welt“ , in der dieser Beitrag zuerst erschienen ist; Buchveröffentlichungen u.a.: „Enzyklopädie der Alltagsqualen“ (Eichborn) und „Tschüss, Deutschland! Aufzeichnungen eines Ausgewanderten“ (Galiani)