Referendum offenbart eine gespaltene Türkei
Westen gegen Osten, erste Klagen – Premier Erdogan verbessert seine Aussichten auf eine dritte Amtszeit
Von Boris Kálnoky
Istanbul – Nach dem Sieg beim Verfassungsreferendum hat die türkische Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt, ihre Reformpläne voranzutreiben. Die Regierungspartei AKP werde nun mit den Arbeiten an einer völlig neuen Verfassung beginnen, sagte Erdogan. 57,9 Prozent der Wähler hatten am Sonntag für die Verfassungsänderungen gestimmt. In Berlin, Brüssel und Washington wurde dies als Schritt in Richtung Demokratie gepriesen.
Ein Blick auf die Wahlkarte offenbart ein Paradoxon: Der westliche Teil des Landes, traditionell „aufgeklärt“, im Vergleich zum Osten viel gebildeter, säkularer und an Europa orientiert, stimmte gegen die Reformen, obwohl diese doch europäische, demokratische Standards einführen. Der anatolische Osten, weniger gebildet, isolierter, konservativ und religiös gesinnt, tendenziell antieuropäisch, stimmte dafür. Die Zustimmung war dort am größten, wo auch die Analphabetenrate am größten war.
Das mag daran liegen, dass die Wähler etwas anderes im Reformpaket erblickten als die Beobachter in Brüssel. Die frommen Muslime im Osten stimmten nicht dafür, um die Emanzipation der Frau zu fördern. Und die säkularen Wähler im Westen waren nicht deswegen dagegen, weil sie Behinderte benachteiligen wollten. Für die meisten Wähler ging es vor allem um die Frage, ob es der religiös geprägten Regierungspartei AKP gestattet werden soll, die Justiz zu dominieren und das bisher säkulare Militär zu unterwandern. Diese Frage beantworteten die säkular gesinnten Wähler mit Nein, all die anderen Punkte der Reform waren zweitrangig. Die religiös gesinnten Wähler im Osten stimmten jedoch dafür.
Einzige, aber wichtige Ausnahme der West-Ost-Trennung war Istanbul, das durch massenhafte Migration zu einer Art Osten im Westen geworden ist. Die Stadt mit 15 Millionen Einwohnern, die etwa die Hälfte der türkischen Wirtschaftskraft darstellt, stimmte für die Reform.
Die Kluft zwischen Ost und West wirft auch ein Schlaglicht auf die Hintergründe des seit 2001 fortschreitenden politischen Machtwechsels in der Türkei. Die AKP, die nach zwei erfolgreichen Legislaturperioden nun mit einer dritten nach den Parlamentswahlen im Juli 2011 rechnen kann, ist die Stimme der religiösen anatolischen Bevölkerung. Deren Geburtenraten sind seit Jahrzehnten deutlich höher als die der westlichen „europäischeren“ Bevölkerungsschichten, von denen der Islam eher als Modernisierungsbremse empfunden wird.
Wirtschaftlich gesehen stimmt das nicht, zumindest nicht für den Islam der AKP. Sie ist eine Geldpartei, geboren aus der Mentalität des sogenannten anatolischen Calvinismus, eine Partei der frommen Händler und Geschäftemacher, die im wirtschaftlichen Erfolg einen Fingerzeig Gottes sehen. Die Börse jedenfalls reagierte mit einem Höhenflug auf das Wahlergebnis. Die Beteiligung war mit 77 Prozent angesichts eines Boykottaufrufs der Kurdenpartei BDP (politischer Arm der Terrorgruppe PKK) relativ hoch. In der östlichsten Provinz Hakkari gingen nur 9000 Wähler an die Urnen, in der Kurdenmetropole Diyarbakir und Umland lag die Beteiligung bei nur 35 Prozent.
Die beiden großen kemalistischen Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die nationalistische MHP, hielten ihren bisherigen gemeinsamen Stimmenanteil. Sie tun sich schwer gegen eine AKP, die sich nicht nur religiös, sondern auch sozial und nationalistisch gebärdet.
Die EU-Kommission lobte die Zustimmung zu den Reformen als wichtigen Schritt, die EU-Beitrittskriterien zu erfüllen. Allerdings werde „eine ganze Reihe von Ausführungsgesetzen“ nötig sein, und „wir werden deren Ausarbeitung genau beobachten“, hieß es.
US-Präsident Barack Obama begrüßte die hohe Beteiligung an der Abstimmung beim Nato-Verbündeten Türkei. Diese belege die „Vitalität der türkischen Demokratie“. Wie vital, das zeigte der Tag nach dem Referendum: Türkische Politiker und Schriftsteller stellten Strafanzeige gegen die Putschisten vom 12. September 1980. Die frühere Militärführung unter General Kenan Evren (93) müsse wegen illegalen Staatsstreichs angeklagt werden.
Quelle:
eine-gespaltene-Tuerkei.html