Erdogan mit dem Rücken zur Wand
26.12.2013
Premier Erdogan versucht den Befreiungsschlag und feuert seine halbe Regierung. Ein deutliches Zeichen, dass es um den umstrittenen Machtpolitiker in der jüngsten Korruptionsaffäre einsam geworden ist.
27.12.2013 | 18:23 | von Helmar Dumbs (Die Presse)
Wien/Ankara. Es war eine Aktion, wie sie typischer nicht sein könnte für den Machtmenschen Recep Tayyip Erdoğan: Noch nie ist der türkische Premier seit seiner Amtsübernahme 2003 so sehr in Bedrängnis geraten wie durch die jüngste Korruptionsaffäre, die bis in höchste Ebenen von Politik und staatsnaher Wirtschaft reicht. Die Antwort des Power-Politikers: Mit einem Paukenschlag setzte er in der Nacht auf Donnerstag gleich zehn Minister an die Luft.
Doch die Aktion, mit der der Premier seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen wollte, kann nicht mehr verdecken, dass er tatsächlich mit dem Rücken zur Wand steht. Was die blutig niedergeschlagenen Proteste im Istanbuler Gezi-Park im Sommer nicht geschafft haben, schafft nun die Justiz – gegen großen Widerstand, denn wie Staatsanwalt Muammer Akkas am Donnerstag erklärt hat, sei er durch massiven Druck daran gehindert worden, die Ermittlungen auszuweiten.
Der Hintergrund: Vor gut einer Woche sind im Zuge einer Razzia nicht nur der Direktor der staatlichen Halkbank, sondern auch drei Ministersöhne festgenommen worden. Es geht, neben den „üblichen“ Vorwürfen von Schmiergeldzahlungen bei Bauaufträgen, auch um illegale Geschäfte mit dem Iran. Die oppositionsnahe Zeitung „Cumhuriyet“ spekuliert, dass auch Erdoğans Sohn Bilal involviert sein könnte. Schwerer wiegt derzeit, dass der zurückgetretene Umweltminister Bayraktar (sein Sohn steht unter Verdacht) dem Premier vorwarf, einen Großteil der inkriminierten Bauaufträge persönlich gutgeheißen zu haben, weshalb er gleich mitzurücktreten solle.
Auch Europaminister Bağis muss gehen
Nun tauschte Erdoğan also nicht nur diese drei familiär involvierten Minister aus, sondern seine halbe Regierungsmannschaft. Zwei Namen sind bemerkenswert: Den Hut nehmen musste auch Europaminister Egemen Bağis. Er war lange das freundliche Gesicht der Regierung für Brüssel, der Mann, der unter Konsum beträchtlicher Mengen Kreide die Bedenken gegen einen Beitritt der Türkei schlicht hinwegzulächeln versuchte. Mit bescheidenem Erfolg. Interessant ist, dass Erdoğan die Position nun überhaupt neu besetzt hat. Bei all der Enttäuschung Ankaras über die EU und der schmollenden Rhetorik, die Türkei brauche die Union gar nicht, in Wahrheit sei es genau umgekehrt, wäre es nur folgerichtig gewesen, die Position infolge Obsoleszenz ganz einzusparen.
Blühende Verschwörungstheorien
Der zweite Name ist der des neuen Innenministers, Efkan Ala. Er soll als Staatssekretär hinter den Kulissen nicht nur maßgeblich das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Gezi-Park-Demonstranten orchestriert haben, er war auch verantwortlich für die jüngsten Umbesetzungen leitender Polizeiposten in großem Stil – zufälligerweise ganz kurz nach Publikwerden der Korruptionsaffäre. Getroffen hat es auch ranghohe Polizisten, die mit den Ermittlungen in der Sache beschäftigt waren. Das Köpferollen in der Exekutive ging weiter, erst am Mittwoch wurde 400 Beamten gekündigt, wie die APA berichtete.
Die Begleitmusik ist bekannt. Wie schon im Sommer bei den Gezi-Park-Protesten wittert die Regierung eine Verschwörung in- und ausländischer Kräfte: der USA (der US-Botschaft waren die dubiosen Geschäfte der Halkbank schon länger ein Dorn im Auge), ausländischer Geschäftsleute, denen der wirtschaftliche Aufstieg der Türkei nicht passt, und der einflussreichen Bewegung des Predigers Fetullah Gülen, der passenderweise in den USA lebt. Gülen und Erdoğan waren einst Verbündete, zuletzt kam es allerdings zum Bruch. Dieser manifestiert sich auch darin, dass Gülen-nahe Medien wie „Zaman“, die dem Premier bisher die Stange gehalten haben, ihn nun nach Kräften kritisieren.
Dass Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroğlu in dem Zusammenhang von einem „tiefen Staat“ spricht, entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie, war es doch gerade seine kemalistische CHP, die früher die Nähe zu solchen Strukturen pflegte.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.12.2013)