Lehrer als Integrationshelfer: Gemischte Klassen, germanische Lehrerzimmer
Von Birger Menke
Lehrerin Sen: Eine unwahrscheinliche Bildungskarriere
Damla Sen hat es trotzdem geschafft. Die vierte Klasse hatte sie mit guten Noten abgeschlossen, doch ihre Lehrerin riet ihr davon ab, auf das Gymnasium zu wechseln. Schließlich könne sie von ihren Eltern nicht ausreichend unterstützt werden, da sei nicht zu erwarten, dass sie am Gymnasium mithalten könne.
Sens Eltern sind nahe Ankara geboren, der Vater kam 1962 nach Deutschland, die Mutter 1979. Der Vater sprach zwar gut Deutsch, musste aber arbeiten. Die Mutter war zwar zu Hause, ihr Deutsch war jedoch nicht so gut. Sen kam auf dem Gymnasium dennoch über die Runden. Heute ist sie 29 Jahre alt und unterrichtet Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in Frankfurt.
Es ist eine Bildungskarriere, die so unwahrscheinlich wie selten ist: Sen hatte keine Vorbilder, keiner ihrer Lehrer hatte einen Migrationshintergrund wie sie. Trotzdem interessierte sie sich für den Beruf, hospitierte nach dem Abitur auf eigene Faust in einer Grundschule und einem Gymnasium, fand auf letzterem eine Lehrerin, die sie ermutigte und begann, Deutsch und Geschichte auf Lehramt zu studieren.
Es gibt ein Stipendium für Lehramtsstudenten mit Migrationshintergrund
Ginge es nach der Bundesregierung, gäbe es in Deutschland viel mehr Damla Sens. In ihrem Integrationsprogramm, das Innenminister Thomas de Maizière am Mittwoch vorstellte, wirbt die Bundesregierung für mehr Lehrer mit Migrationshintergrund. Weil sie Einblick in andere Traditionen und Kulturen hätten, trügen sie dazu bei, Bildungseinrichtungen kulturell zu öffnen.
Der Wunsch ist so angebracht wie alt: Seit Jahren fordern Fachleute und Politiker, mehr Migranten für den Lehrerberuf zu gewinnen. Besonders seit dem Hilfeschrei des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Schule im Jahr 2006 ist der Mangel an solchen Lehrern auch öffentlich als Problem erkannt worden.
Im Nationalen Integrationsplan 2007 der Bundesregierung hieß schon, „die interkulturelle Kompetenz und damit die Unterrichtsqualität in Schulen mit einem hohen Migrantenanteil“ müsse durch eine größere Zahl von Migranten in der Lehrerschaft verbessert werden.
Doch es blieb meist beim Wünschen – ohnehin ist Bildung Ländersache.
Ein Stipendium für Lehramtsstudenten mit Migrationshintergrund gibt es in Deutschland, doch es wird privat finanziert. Als die Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag im Frühjahr 2010 beantragte, ein Stipendium für Abiturienten mit Migrationshintergrund für ein Lehramtsstudium aufzulegen, antwortete die Landesregierung: „Angesichts der äußerst angespannten Haushaltslage wird kein Spielraum für diesen Vorschlag gesehen.“
Sen wurde von der Hertie-Stiftung gefördert, 2008 gründete diese das Programm „Horizonte“, das sich speziell an angehende Lehrer aus Migrantenfamilien richtet. Derzeit werden 30 Stipendiaten gefördert.
„Es ist schön, wenn der Bund etwas fordert, was in den Ländern längst lebt“
Sen spricht fließend Türkisch und kann immer wieder zwischen der Lebenswelt der Schüler und den Ansichten ihrer türkischstämmigen Eltern vermitteln. Wenn etwa eine Schülerin am Wochenende mit ihren Freunden ausgehen will, ist Sen gefragt: „Ich kann den Eltern besser vermitteln, dass ihre Tochter nicht gleich ein schlechtes Mädchen ist.“ Sie habe gegenüber den Eltern eine andere Glaubwürdigkeit, sie gebe ihnen zu verstehen, „dass niemand sagt: Ihr seid schlechte Eltern – und doch müsst ihr diesen Kulturkonflikt aushalten und im Sinne eurer Tochter entscheiden“.
Doch trotz der Einigkeit unter Fachleuten und Politikern über den Sinn eines höheren Migrantenanteils unter Lehrern: Im multikulturellen Deutschland sind Schulen weiterhin eine eigene Welt und werden es vorerst auch bleiben. Nur sechs Prozent aller Studenten mit Migrationshintergrund studieren auf Lehramt.
Manche Länder beginnen damit, das Problem anzugehen. Beispiel Hamburg: Jeder zweite Grundschüler hat dort ausländische Wurzeln. „Zugleich haben nur zwei Prozent der Lehrer einen Migrationshintergrund“, sagt Peter Daschner, Leiter des Landesinstituts für Lehrerbildung in Hamburg. Schulen hätten eine gewaltige Integrationsaufgabe, der könnten sie aber nicht gerecht werden, „wenn die Klassen kulturell gemischt, die Lehrerzimmer aber sozusagen germanisch sind“.
Die Hamburger Schulbehörde will das nun ändern: In rund zwei Wochen soll ein neues Projekt der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Vor kurzem wurden eine türkischstämmige Lehrerin und ein arabischstämmiger Lehrer mit je einer halben Stelle eingestellt. Sie sollen ein Netzwerk spinnen aus Lehrern mit Migrationshintergrund. Zum Integrationsprogramm der Bundesregierung sagt Daschner: „Es ist doch schön, wenn der Bund etwas fordert, was in den Ländern längst lebt.“
„Es scheint mir, dass Integration vor den Türen der Schulen aufhört“
Die Berliner Schulverwaltung wird ein solches Projekt schon am kommenden Mittwoch offiziell starten. Vorbild für Berlin und Hamburg ist das Netzwerk „Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte“ in Nordrhein-Westfalen. Gegründet wurde es auf Initiative des Kultusministeriums, seit 2007 kümmern sich die vernetzten Lehrer um Nachwuchs. Sie werben unter Jugendlichen und Studenten für den Lehrerberuf, gehen an Schulen und bieten Abiturienten an, sie in der Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn für ein paar Wochen an der Schule zu begleiten oder bei einer Klassenfahrt dabei zu sein.
Seit 2008 leitet Antonietta Zeoli das Projekt. Sie wurde in Italien geboren, mit sieben kam sie nach Deutschland. Sie ging auf die Realschule, machte dann das Abitur, studierte, promovierte, und arbeitete dann als Lehrerin an einem Gymnasium. Dort merkte sie, dass sie etwas hatte, das ihren deutschstämmigen Kollegen oftmals fehlte: Sensibilität. „Ein Kollege beschwerte sich zum Beispiel, dass seine russischen Schüler ihn nie ansahen. Er fand das respektlos.“ Dabei sei das Gegenteil der Fall gewesen: „Bei ihnen ist das eine Respektbezeugung.“
Anfangs fanden sich 31 Lehrer mit Migrationshintergrund zusammen, heute betreut Zeoli rund 400. „Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte bringen doch eine ganz andere Authentizität rein. Es scheint mir, dass Integration vor den Türen der Schulen aufhört“, sagt sie. In Nordrhein-Westfalen seien kaum mehr als ein Prozent der Lehrer Migranten.
Im März fand der erste „bundesweite Kongress der Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte“ in Paderborn statt. Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, ließ ein Grußwort verlesen, worin sie versprach, den Nationalen Integrationsplan zu einem Aktionsplan fortzuentwickeln. Sie kündigte ein Fachgespräch an, zu dem auch Zeoli als Vertreterin des Netzwerks eingeladen werden sollte. Seither hat Zeoli nichts mehr von Böhmer gehört. Aktionismus statt Aktionsplan, so scheint es.
„Schüler werden doch vergackeiert“
Zeoli sprüht vor Leidenschaft, sie singt fast, wenn sie über ihr Netzwerk spricht, das dafür sorgen soll, dass die gesellschaftliche Realität endlich an den Schulen ankommt. „Schüler“, sagt sie, „werden doch vergackeiert: Es gibt fast nur deutsche Lehrer, das ist für deutsche Schüler ein falsches Bild unserer Gesellschaft, und Jugendlichen mit Migrationshintergrund fehlen die Vorbilder“.
Die Konsequenzen merkt Zeoli auch, wenn sie Eltern besucht, um sie dafür zu gewinnen, dass der Sohn oder die Tochter ein Lehramtsstudium aufnimmt. „Viele sagen: Der soll doch Jurist werden oder Arzt. Die rechnen gar nicht damit, dass ihr Kind auch Lehrer werden könnte, die Möglichkeit ziehen sie nicht in Betracht.“
So war es auch bei Nora Boutaoui, 27, die wie Sen von der Hertie-Stiftung gefördert wurde. Ihr Vater stammt aus Algerien, ihre Mutter aus Deutschland. Als sie nach ihrem Abitur sagte, dass sie gerne auf Lehramt studieren wolle, war ihr Vater nicht begeistert. „‚Kind, mit den guten Noten kannst du doch Medizin studieren‘, hat er gesagt.“ Heute sei er begeistert von ihrem Werdegang, „damals war sein Lehrerbild geprägt von Algerien: Dort sind sie schlecht bezahlt, es gibt keine Aufstiegschancen, Lehrer gilt nicht als ein Akademikerberuf“.
Boutaoui studierte Französisch, Politik und Philosophie. Im November wird sie ihr Referendariat in Hamburg beginnen, um Lehrerin an einem Gymnasium zu werden. In Praktika während des Studiums merkte sie, dass sie ein Vorbild sein kann, gerade für Schüler mit Migrationshintergrund. „Alleine wenn ich meinen Namen zu Beginn an die Tafel schreiben muss, weil ihn sonst keiner versteht: Da sagen dann Schüler: ‚Mensch, der ist ja genauso schwer wie meiner‘.“
Bisher sind Sen und Boutaoui Ausnahmen, doch mindestens Antonietta Zeoli hat Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Die Einsätze ihres Netzwerks an Schulen würden evaluiert, das Ergebnis sei deutlich: „Einige Schüler nehmen danach ein Lehramtstudium auf.“