Sechzig Jahre, nachdem erste Gastarbeiter ins Land kamen, zeigen viele Deutsche plötzlich großes Interesse an deren Sprache
Von KATJA HEISE
Ein neuer Trend setzt sich durch: Deutschland lernt Türkisch!
Jubeln auf Deutsch – und Türkisch: In Berlin können deutsche Kinder Türkisch längst als Schulfach belegen. Auch hier steigt die Nachfrage.
Mehrere Berliner Sprachschulen verzeichneten einen Zuwachs von vierzig bis fünfzig Prozent, allein im vergangenen Jahr. Von einem Nachfrage-Boom sprechen außerdem die Sprachzentren an den Unis deutscher Großstädte.
Neben den Berliner Unis verzeichnet die Uni Hamburg fast eine Verdopplung ihrer Türkisch-Sprachschüler seit 2009, die Ludwig-Maximilians-Universität in München gar eine Verdreifachung, wie es auf Anfrage heißt.
„Das plötzliche Interesse ist erstaunlich und so groß wie noch nie“, sagt Elke Roessler, Leiterin des Sprachenzentrums der Berliner Humboldt-Uni zu BILD.de. „2008 hatten wir nur nur zwei Türkischkurse, inzwischen sind es sechs. Es müssen immer wieder Studierende von Anfängerkursen abgewiesen werden“, sagt auch der Sprecher der Uni München Clemens Grosse.
Ebenso habe die Freie Universität in Berlin aufgrund der großen Nachfrage aufgestockt. Es gebe jetzt mehr Kurse, auch für Fortgeschrittene, heißt es hier.
Und es gibt noch eine Besonderheit, wie die Leiterin des Sprachenzentrums der Freien Universität Berlin, Dr. Ruth Tobias berichtet: Junge Menschen ohne türkischen Hintergrund bringen – anders als noch vor ein paar Jahren – aus ihrem Umfeld erste Kenntnisse der Sprache mit. Floskeln und Redewendungen sowie kurze Alltagskonversation würden längst im Alltag umgesetzt.
Und auch der kulturelle Code, Mimik und Gestik der türkischen Kultur würde adäquat angewendet. Das halte sie für erstaunlich, weil sich der neue Trend jetzt so plötzlich abzeichne. Vor ein paar Jahren habe sie das noch nicht beobachten können. Immerhin: Die ersten türkischen Gastarbeiter kamen bereits vor sechzig Jahren nach Deutschland. Was ist passiert?
Es sei wohl vor allem der wirtschaftliche Aufschwung der Türkei, der der Sprache ein besseres Image verleiht, glaubt Cem Sentürk vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen.
80 000 türkische Unternehmer liefern auch an deutsche Unternehmen, 5000 deutsche Unternehmen investieren in die Türkei. Seit 2009 hat sich das Brutto-Inlands-Produkt um 17,8 Prozent gesteigert. Es gehe also darum, mit Geschäftspartnern zu kommunizieren.
DIESE TÜRKISCHEN SÄTZE MÜSSEN SIE KÖNNEN…
Was geht ab?
Ne var ne yok?
Untermauert werde dies laut dem Experten auch von dem Erasmus-Studenten-Austausch, den es seit 2004 zwischen der Türkei und Deutschland gibt. Es begann mit knapp 100 Austauschstudenten, heute sind es 700 Deutsche, die jährlich für ein oder zwei Semester in die Türkei gehen.
Viele Studenten lernten heute die Sprache auch, weil sie sie für ihre zukünftige wissenschaftliche oder berufliche Tätigkeit brauchten, bei Studien und Projekten mit dem Land oder bei Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Von wirtschaftlichen Gründen sprechen auch die Schüler von Fatih Kanars Sprachschule im Süden von Neukölln. „Es kommen in den letzten zwei Jahren plötzlich viele Ärzte, Juristen, Lehrer, die auf das große türkischsprachige Klientel nicht verzichten wollen“, erklärt der Türke.
Eine von ihnen: Ulrike Ehrentahl. Die 46-jährige Juristin hat immer wieder mit türkischsprachigen Berlinern zu tun. Noch ist sie im Anfängerkurs und kann keine juristischen Fachdiskussionen in der Sprache führen. „Doch ein bisschen Smalltalk in der Muttersprache des Gegenübers bricht oft das Eis und schafft Vertrauen“, sagt sie.
Nicht zuletzt sei Istanbul aktuell auch einfach eine „total hippe“ Stadt, wie Karin Yesilada der Uni Paderborn und Mitarbeiterin am Projekt Türkisch-Deutscher Kulturkontakt- und Transfer, erklärt. Anders als noch vor ein paar Jahren sei es einfach cool, hier zu studieren, zu arbeiten oder gar zu leben.
Das Fazit der Forscherin bleibt jedoch: „Das sind alles Spekulationen, weil es zu diesem Thema keine Studien gibt. Hier gebe es eine immense Forschungslücke. Sträflich, dass ein Einwanderungsland wie Deutschland die türkisch-deutschen Beziehungen nicht intensiver untersucht.“
via Integration: Deutschland lernt Türkisch – Politik Inland – Bild.de.