Mächtige Gülenisten werden Erdogan gefährlich

Milli Görüs und die Gülen-Bewegung streiten beide für eine türkisch-islamische Weltmacht, bekämpfen sich aber gegenseitig. Die Gülenisten könnten am Ende gar Premier Erdogan entmachten. Von Boris Kálnoky

Foto: AFP Der Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, arbeitet daran, die Gülenisten zu schwächen

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Jahrelang prägte ein erbitterter Machtkampf die türkische Politik: Die islamisch geprägte AKP-Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und die neuen muslimischen Wirtschaftseliten wollten die politische Macht des Militärs und der mit ihm verbündeten „alten“ Eliten brechen.

Diese Schlacht ist gewonnen. Aber nun streiten die Sieger untereinander um die Vorherrschaft. Ein neuer Machtkampf findet statt – diesmal zwischen islamischen Gruppen.

Bewegung kritisierte Gaza-Hilfsflotte

Das erste Scharmützel ereignete sich 2010, nach dem Zwischenfall der sogenannten Hilfsflotte für Gaza, bei der neun militante Türken von israelischen Kommandos erschossen wurden. Diese Aktion war von der islamischen Milli-Görüs-Bewegung organisiert und von der Regierung bewusst geduldet worden.

Erdogan selbst und ein guter Teil seiner Umgebung entsprangen ursprünglich der Milli Görüs – deren Gründer, der inzwischen verstorbene Necmettin Erbakan, war Erdogans politischer Ziehvater. Die Hilfsflotten-Episode schien die politische Schlagkraft der Milli Görüs zu unterstreichen.

Das missfiel einer anderen großen reformislamischen Gruppe, der Gülen-Bewegung, benannt nach dem in Amerika lebenden Prediger Fetullah Gülen. Er sagte dem „Wall Street Journal“ damals: Die Autoritäten zu missachten, sei „nicht fruchtbar“. Die Organisatoren der Aktion hätten eine einvernehmliche Lösung mit Israel suchen müssen.

AKP förderte beide Bewegungen

Milli Görüs und die Gülen-Bewegung sind dem Anspruch nach modernisierende Reformströmungen des Islam. Milli Görüs setzt auf eine Islamisierung der Wirtschaft von den Graswurzeln an, um dadurch eine Islamisierung von Politik und Gesellschaft herbeizuführen.

Die Gülenisten setzen mehr auf Bildung, betreiben Schulen, Universitäten und Wohnheime. Ziel ist ein „Marsch durch die Institutionen“ dieser neuen, von ihr geprägten Jugend, um die Schalthebel der Gesellschaft zu besetzen.

Beide Strömungen träumen von einer türkisch-islamischen Weltmacht. Beide Bewegungen wurden von der AKP gefördert – und die AKP von ihnen – und all das trug zum Erfolg des modernen politischen Islams in der Türkei bei.

Erdogan schießt gegen die Gülenisten

Nun hängt aber der Haussegen schief. Noch ist nicht ganz klar, warum.

Klar ist aber, dass Erdogan gegen die Gülenisten schießt, und sie gegen ihn. Erdogan entließ kürzlich eine Reihe führender Bürokraten, die als Gülenisten galten – aber manche wurden danach von Gül in neuer Funktion eingestellt, beispielsweise der frühere Zentralbankpräsident Durmus Yilmas als Berater.

So richtig ernst wurde es aber, als Erdogan bekannt gab, 2013 oder 2014 die sogenannten Dershanes schließen zu wollen, „egal wessen Interessen dadurch geschädigt werden“. Die Dershanes sind hochprofitable Nachhilfezentren für Schüler; viele werden von der Gülen-Bewegung betrieben.

In der Praxis funktioniert es oft so, dass die oft schlecht bezahlten Lehrer der Schulen ihren Schülern dringend nahelegen, bei ihnen selbst nachmittags in den teuren Dershanes Nachhilfestunden zu nehmen, sonst würden sie die Prüfungen nicht bestehen. Diese Institutionen sind eine üppig sprudelnde Geldquelle.

„Ihr dürft nie aufhören zu marschieren“

Gülen konterte mit einer selten scharfen Widerstands-Aufforderung an seine Anhänger.

In einer Video-Botschaft sagte er: „Wenn sie eure Häuser schließen, öffnet Wohnheime. Wenn sie eure Wohnheime schließen, öffnet neue Häuser. Wenn sie eure Schulen schließen, gründet eine Universität. Wenn sie eure Universität schließen, gründet zehn neue Schulen. Ihr dürft nie aufhören zu marschieren.“

Dieser „lange Marsch“, analog zu jenem Mao Tse-tungs oder auch der europäischen 68er-Idee des „Marsch durch die Institutionen“, erinnerte an eine andere höchst umstrittene Video-Botschaft Gülens, zu früheren Zeiten, eine Kampfansage an das damals herrschende Militär.

Der Anführer floh in die USA

Umstritten deswegen, weil er und seine Anhänger sagen, dass das Video gefälscht wurde; das angeblich harmlose Original ist freilich bislang nicht aufgetaucht.

In der von Gülen bestrittenen Version sagt er seinen persönlich anwesenden Anhängern: „Ihr müsst euch in den Arterien des Systems bewegen, ohne dass jemand eure Anwesenheit bemerkt, bis ihr alle Machtzentren erreicht habt. … Ihr müsst warten, bis ihr alle Macht im Staat habt, bis ihr die ganze Macht der verfassungsmäßigen Institutionen der Türkei auf eurer Seite habt.“

Das Video endet mit der Aufforderung, das, was er gerade gesagt hat, geheim zu halten. Gülen wurde deswegen angeklagt – und floh nach Amerika, wo er bis heute geblieben ist – aber wurde am Ende vom Vorwurf einer „Infiltration des Militärs“ freigesprochen.

Gülen-Anhänger haben viel Macht

Dass aber seine Anhänger mittlerweile sehr wohl beträchtlichen Einfluss haben, zeigte sich im Rahmen der sogenannten Ergenekon-Prozesse: Massenverfahren gegen Hunderte von Kemalisten und Militärs, denen vorgeworfen wurde, die AKP und Erdogan stürzen zu wollen.

Die Vorwürfe waren und sind eine Mischung aus Realität und Aberwitz, der entscheidende Aspekt ist jedoch, dass die Gülen-Medien und eventuell Gülen-freundliche Elemente in der Justiz eine treibende Kraft waren: Über Indiskretionen der Staatsanwälte und eifrige Vorverurteilungen prägten Medien wie „Zaman“ die Debatte – und drohten gar jenen, die die Verfahren wegen ihrer rechtsstaatlichen Mängel kritisierten, sie seien selbst Ergenekon-Anhänger.

Parallel dazu wurden mehrere Autoren angeklagt und inhaftiert, die investigativ Bücher über den vermeintlichen Einfluss der Gülenisten im Sicherheitsapparat geschrieben hatten. Gülen selbst verurteilte das, es ändert aber nichts daran dass es offenbar Seilschaften im Justiz- und Sicherheitsapparat gibt, die sich als seine Anhänger betrachten.

Hängt Erdogans Wahlerfolg von Gülen ab?

Das alles war, was die politischen Interessen betrifft, weitgehend deckungsgleich mit jenen Erdogans. Aber es kam offenbar ein Punkt, an dem er zu der Auffassung gelangt sein mag, dass die Gülenisten weiter gingen, als er gehen wollte – und dass er nicht die Macht hatte, sie zu stoppen. Er kritisierte die Verhaftung des einstigen Generalstabschefs Ilker Basbug und die lange Dauer der Verfahren.

Dass er nun aber wirtschaftliche Interessen der Gülenisten angreift und prominente Gülen-Anhänger feuert, wirft Fragen auf: Sind sie ihm zu mächtig geworden, ein Staat im Staat? Eigentlich braucht er dringend ihre Unterstützung, er will sich 2014 zum Präsidenten wählen lassen.

„Wenn Gülen dazu aufruft, gegen Erdogan zu stimmen, verliert Erdogan die Wahl“, sagt ein deutscher Gülen-Vertreter. Oder versucht Erdogan, die Gülenisten zu schwächen, weil sie sich bereits gegen ihn entschieden haben?

Präsident fällt durch Kritik an AKP auf

Denn es fällt auf, dass Gülen-Medien immer öfter Erdogan kritisieren, nie aber Staatspräsident Abdullah Gül. Erdogan will dessen Posten, und dazu ein neues präsidiales Regierungssystem, denn als Ministerpräsident kann er nicht wiedergewählt werden.

Was aber ist, wenn Gül den Platz nicht freimacht? Er kann sich rechtlich gesehen zur Wiederwahl stellen. Lange Zeit galt diese Option als undenkbar, Erdogan als zu mächtig, Gül als innerhalb der AKP zu schwach und loyal.

Er will die Partei nicht spalten. Aber seit Kurzem stellt er sich systematisch gegen Erdogan und treibt diesen zu erzürnten Reaktionen. Wo Erdogan die EU geißelt, lobt Gül sie und fordert eine Umkehr der AKP hin zu Europa. Wo Erdogan harte Positionen gegen Kurdenpolitiker vertritt, setzt Gül auf Kompromiss. Er umwirbt die Opposition und wird von ihr gelobt.

Das Ergebnis: In Umfragen liegt er vor Erdogan, wenn es um die Präsidentschaft geht. Im islamischen Lager würden die meisten Erdogan wählen, aber mit Unterstützung der Opposition könnte Gül siegen. Und mit Hilfe der Gülenisten.