Erdogan: Lass Soner Yalcin frei!
Geschrieben von: Jürgen Elsässer Am 16. November 2012 unter International, Jürgen Elsässer, Nachrichten, Welt
Soner Yalcin sitzt in Erdogans Gefängnis, weil er die Wahrheit über das Gladio-Terrornetzwerk in der Türkei weiß. Von Jürgen Elsässer.
Bis gestern kannte ich Soner Yalcin nicht. Seit heute ist er mein Bruder.
Am heutigen 16. November beginnt sein Prozess, seit bald zwei Jahren sitzt er im Gefängnis. Für nichts, was strafwürdig ist. Nur, weil er zu viel weiß und darüber geschrieben hat. Hey, Ihr Pressefritzen in NATO-Europa, Ihr wollt doch den Sacharow-Preis an die russischen Pussy-Muschis vergeben, oder? Bevor Ihr Euch weiter blamiert, beschäftigt Euch für fünf Minuten mit Soner Yalcin. Da habt Ihr einen Kollegen, der diesen Preis wirklich verdient. Auf dass ihn Erdogan freilassen muss. Sofort!
Der 46jährige Yalcin wurde am 14. Februar 2011 in Haft genommen. Der Vorwurf: Er sei ein Führungsmitglied der Ergenekon-Verschwörung. Unter diesem Titel laufen derzeit in der Türkei eine Vielzahl von Verfahren. Vor allem führenden Militärs wird vorgeworfen, die heutige Regierung der islamischen AKP-Partei mit einem Putsch beseitigen zu wollen. Die gesamte Führungsspitze der Armee wurde auf diese Weise enthauptet und durch neue Leute ersetzt. Dieses Vorgehen fand in den westlichen Ländern zunächst Sympathie, denn tatsächlich hatte das türkische Militär in der Vergangenheit immer wieder die Macht an sich gerissen, zuletzt beim Umsturz 1980. Auch in der Folge gab es zahlreiche Morde und Attentate, die einem geheimen Militärzirkel zugeschrieben wurden. In der Türkei prägte man dafür den Begriff des „tiefen Staates“. Es ist offensichtlich, dass diese klandestine Struktur mit der geheimen NATO-Armee Gladio zusammenhängt, die noch zu Zeiten des Kalten Krieges aufgestellt worden war und in vielen Ländern eine „Strategie der Spannung“ betrieb: In Italien werden Morde der Roten Brigade (Aldo Moro) wie der Neofaschisten (Bologna 1980) auf ihr Konto gebucht, in Deutschland das rechtsradikale Oktoberfest-Attentat (1980) und die Attentate vor allem der „3. Generation“ der RAF.
Hat die Erdogan-Justiz mit den Ergenekon-Prozessen also ein Schlag gegen dieses Gladio-Netzwerk geführt? Wer das wohlmeinend annimmt, muss spätestens durch das Verfahren gegen Soner Yalcin eines besseren belehrt werden. Denn Yalcin war einer der bekanntesten Kämpfer gegen Gladio in der Türkei! Er schrieb die Biographie von Abdullah Catli – der den Papst-Attentäter Mehmet Agca instruierte und ihm eine verlogene KGB-Legende strickte; eben jener Catli, der 1996 bei einem Autounfall im selben Wagen mit dem Polizeichef von Ankara und mit gefälschten Papieren des damaligen Innenministers aufgefunden wurde. Und Yalcin wertete die Dokumente aus, die der 1993 von Unbekannten ermordete Major Cem Ersever hinterlassen hatte; dieser hatte ausgepackt über zahlreiche schmutzige Kill-Aufträge seiner Spezialeinheit. Diese Kill-Aufträge werden heute von der türkischen Justiz mit dem Ergenekon-Netzwerk in Verbindung gebracht. Was zum Teufel aber hat Yalcin mit diesem Ergenekon-Netzwerk zu tun, wo er es doch war, der diese Geheimoperationen aufgedeckt hat? Das wäre ungefähr so, als würde man in Deutschland Journalisten einsperren, die die Verwicklung der Geheimdienste in die NSU-Morde nachweisen – unter der Anklage, diese Journalisten seien selber Mitglieder der NSU! Perverser geht es wirklich nicht.
Yalcin ist „der“ Geheimdienstexperte unter den türkischen Journalisten. Er schrieb für Tageszeitungen, arbeitete fürs Fernsehen – sogar für CNN Türk –, zuletzt als Kolumnist für das bekannteste Mainstream-Medium Hürriyet. Seine Bücher über Gladio und den schmutzigen Untergrundkrieg in der Türkei erreichten sechsstellige Auflagen. Bis zu seiner Verhaftung betrieb er ein eigenes Nachrichtenportal namens OdaTV.
Die Anklage stützt sich auf Dokumente, die auf den PCs seiner Kollegen (nicht bei ihm!) gefunden wurden. Er behauptet, diese wurden dort mittels eines Virus von außen implantiert, und kann auf entsprechende Expertisen von vier verschiedenen Instituten verweisen. Tatsächlich wurden die anderen Angeklagten des OdaTV-Verfahrens mittlerweile freigelassen. Warum er nicht, bei dem gar nichts gefunden wurde – nicht einmal die fingierten Texte?
In einem offenen Brief aus der Zelle schreibt er über die 134-seitige Anklageschrift: „Das Wort ,Nachrichten‘ kommt darin 361 mal vor, ,Buch/Schreiben‘ 280 mal, ,Kolumne‘ 53 mal, ,Interview‘ 26 mal und ,Artikel‘ 5 mal. Niemals ist die Rede von Waffe, Bombe, Mord oder Protest in dieser Anklageschrift. Während meiner Verhöre fragten mich die Richter immer nur ,Warum schrieben Sie über diese Nachrichten?‘ oder ,Warum haben Sie dieses Interview publiziert?‘“
Offensichtlich sind das seine Verbrechen: Fragen zu stellen, die Wahrheit zu suchen, über Tatsachen zu schreiben. „In anderen Worten, mein Verbrechen ist mein Beruf,“ resümiert Yalcin. Tatsächlich sind 102 Journalisten in der Türkei hinter Gittern – von 170 weltweit.
Seit 21 Monaten sitzt er in einer Zelle, in der 24 Stunden am Tag das Licht brennt – und das Wasser 17 Stunden am Tag abgestellt ist. Warum? Vielleicht sitzt er auch deswegen, weil er die Erdogan-Regierung kritisiert. Und weil er, besser als jeder andere, weiß, dass die Ergenekon-Säuberungen das türkische Militär nicht demokratischer, sondern willfähriger gemacht haben.
Nun rasseln die Panzerketten an der syrischen Grenze. Krieg liegt in der Luft. Da kann ein Kritiker wie Soner Yalcin gefährlich werden – und zumindest ein Teil der inhaftierten Generäle, die eher US-kritisch eingestellt sind. Aber für diejenigen auf der Welt, die den Frieden und die Demokratie und die Menschenrechte und die Pressefreiheit lieben, ist es gerade dieses explosive Potential von Soner Yalcin, die uns um seine Freiheit kämpfen lässt.
Wenn es etwas nützt: Ich tausche mit ihm. Erdogan, lass Soner Yalcin frei! Du kannst mich einsperren. Seine Verbrechen sind auch die meinen.