Aufruf „Academic Liberty and Freedom of Research“

Aufruf „Academic Liberty and Freedom of Research“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe DAVO Mitglieder,

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Frankreich haben einen Aufruf veröffentlicht zur Ver­folgung von WissenschaftlerInnen in der Türkei, der (in englische Übersetzung) unter folgendem link zu finden ist: . Anlass war eine Welle von Verhaftungen und politisch motivierter Anklagen in der Türkei, die auf eine erhebliche Gefährdung der Freiheit der Wissenschaft, der Freiheit journalistischer Recherche und  des Rechts auf freie Meinungsäußerung hinweisen.

Die internationale Initiative hat sich die Bezeichnung „Academic Liberty and Freedom of Research“ gegeben. Inzwischen hat sich in Berlin eine Initiative gebildet, die auch in Deutschland Unter­schriften für den Aufruf sammelt und weitere Aktionen zur Unterstützung der Inhaftierten plant. Weitere Initiativen gibt es in England, der Schweiz, der Türkei und den USA, weitere werden hoffentlich folgen. Daneben auch zahlreiche weitere Aufrufe und offene Briefe.

InitiatorInnen in deutschen Aktionsgruppe sind Bilgin Ayata, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin und Erdem Evren, Research Fellow am ZMO Berlin. Kontakt: [email protected]

Für die Kommunikation wurde eine yahoo-Mailgruppe eingerichtet unter der Adresse: [email protected], Anmeldungen dazu bitte an Erdem Evren.

Wir würden es sehr begrüßen, wenn auch Mitglieder der DAVO aus Deutschland sich für die Wissenschafts- und Meinungs­freiheit und sich für die Freilassung ihrer inhaftierten Kolleginnen und Kollegen einsetzen würden.

Zum Hintergrund:

Am 1. November 2011 wurde gegen 44 Personen, die in den Tagen zuvor in Istanbul festgenommen worden waren, Untersuchungshaft verhängt. Ihnen wird Mitgliedschaft in der KCK vorgeworfen, einer politischen Struktur, der verdeckte und von der PKK gesteuerte gesellschaftliche Aktivitäten vorgeworfen wird. Wir wollen hier keine Bewertung der KCK und der Berechtigung der gegen sie er­hobenen Vorwürfe vornehmen. Grund unserer Besorgnis ist es vielmehr, dass in diesem Zusammen­­­­hang in vielen Fällen Menschen offenbar allein aufgrund wissenschaftlicher Positionen oder Publika­tionen angeklagt und in Unter­suchungs­haft genommen werden. Ein gravierendes Problem ist dar­über hinaus eine gesetzliche Regelung, wo­nach Angeklagten, denen Vergehen nach dem Antiterror­gesetz vorge­worfen werden, und ihren Anwälten bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens die Einsicht in die Ermittlungsakten verweigert wird. Da die Angeklagten weder über die konkre­ten Tat­vorwürfe,  noch über die vorliegenden Beweise für diese Vorwürfe informiert werden, sind  sie nicht in der Lage, die Vorwürfe zu widerlegen und Haftentlassungsanträge inhaltlich  zu begrün­den. Sie bleiben daher mindestens bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens in Untersuchungs­haft ohne die Chance auf eine effektive juristische Überprüfung.

Unter den am 1. November verhafteten ist z.B. Prof. Büşra Ersanlı, Professorin für Politikwissenschaft an der Marmara Universität in Istanbul. Prof. Ersanlı hat sich als Politikwissenschaftlerin und Histori­kerin auch mit kontroversen Themen der türkischen Geschichtsinterpretation auseinan­der­gesetzt und dazu publiziert. Ebenso hat sie internationale wissenschaftliche Werke ins Türkische übersetzt, z.B. von Ernest Gellner. Sie hat sich politisch in der legalen pro-kurdischen „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP) engagiert und war Vertreterin der BDP in einem offiziellen Beratungs­gremium, das über den Entwurf einer neuen türkischen Verfassung diskutiert. Während ihrer Vernehmung wurden ihr keine Fragen bezüglich eventueller Verbindungen zur KCK oder PKK gestellt, sondern lediglich zu den Inhalten von zwei Vorträgen, die sie in politischen Seminaren der BDP gehalten hat und die Themen ihrer wissenschaftlichen Forschungen zum Inhalt hatten.

Ein weiteres Opfer der Verhaftungswelle Ende Oktober ist der Verleger Ragıp Zarakolu. Der 63jährige Zarakolu ist Gründer und Besitzer des Verlages Belge (Dokument). Er hat zahlreiche internationale wissenschaftliche Werke ins Türkische hat übersetzen lassen und immer wieder Bücher zu in der Türkei tabuisierten Themen, vor allem zu Problemen ethnischer und religiöser Minderheiten, verlegt. Damit hat er wesent­liche Voraussetzungen zur Forschung zu diesen Themen geschaffen Er war  Gründungs­mitglied des Menschenrechts­vereins der Türkei (IHD) und Vorsitzender des Komitees für Verlegerfreiheit der Union der Verleger der Türkei (Türkiye Yayıncılar Birliği Yayımlama Özgürlüğü Komitesi). Am 5. November 2011 sollte Ragıp Zarakolu auf Einladung des Lepsiushauses und der Universität Potsdam auf einer Konferenz über „Die innertürkische Diskussion über 1915/16“ sprechen. Am 15. November sollte er an einer Veranstaltung des WDR zur Verfolgung von Schrift­stellern in der Türkei teilnehmen.  Auch gegen Ragıp Zarakolu wurden keinerlei Beweise für eine an­gebliche Mitgliedschaft in der KCK vorgebracht. Er wurde zu von ihm verlegten Büchern befragt und – ebenso wie Prof. Ersanlı- zu einem Vortrag, den er in der politischen Akademie der BDP gehalten hat.

Bereits Anfang Oktober wurde sein Sohn Deniz Zarakolu, Mitarbeiter im Verlag seines Vaters und Promotionsstudent der Politikwissenschaft, verhaftet. Auch ihm wird Mitgliedschaft in der KCK vor­ge­worfen und auch in seinem Fall stützt sich dieser Vorwurf allein darauf, dass er einen Vortrag an der genannten Akademie der BDP gehalten hat.

Mit den Festnahmen von Ragip und Deniz Zarakolu wird – wahrscheinlich bewusst und gewollt – auch die Existenz des Verlagshauses Belge gefährdet.

Im Kontext anderer Prozesse, wie z.B. dem Ergenekon-Verfahren sind ebenfalls Wissenschaftler auf der Grundlage äußerst vager Beschuldigungen angeklagt und inhaftiert. Dazu wird es hoffentlich im Rahmen der Initiative noch weitere Recherchen geben.

Handlungsmöglichkeiten:

Bitte schreiben Sie Briefe an den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, in denen Sie ihn darum bitten, Maßnahmen zur Wahrung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in der Türkei zu ergreifen und eine objektive Überprüfung der Vorwürfe gegen die oben genannten Personen sowie ihre Freilassung aus der Untersuchungshaft zu erwirken.

Ein weiterer Akt der Solidarität könnte es sein, Personen wie Büşra Ersanlı oder Ragip Zarakolu zu Vorträgen einzuladen oder sie um Artikel für Publikationen zu bitten. Auch die Übermittlung eigener Recherchen über verfolgte WissenschaftlerInnen wäre sehr willkommen.

Für weitere Informationen stehen wir (als Autorinnen des Hintergrundtextes) gerne zur Verfügung:

Dr. Corry Guttstadt,  [email protected]

Amke Dietert, [email protected]