Viele Türkischstämmige verlassen Deutschland nach dem Studium. Sie tun dies vor allem wegen der Perspektiven und würden gern zurückkommen.
Sie hatte oft davon geträumt, einmal in Istanbul zu leben. Als es soweit war, konnte Rahükal Turgut einfach nicht Nein sagen. Ein Istanbuler Verlag hatte der Rheinländerin mit türkischen Wurzeln eine Festanstellung als Koordinatorin angeboten: Ein sicherer Job, gutes Geld und ein Leben in ihrer Traumstadt. Das war die willkommene Gelegenheit. Turgut musste nicht lange nachdenken. Zwei Jahre ist ihr Umzug nach Istanbul jetzt her. Heute schwärmt die 36-Jährige zwar noch immer: „Ich liebe Köln“, fügt dann aber gleich hinzu: „Für mich war es trotzdem die richtige Entscheidung zu gehen“.
Gehen oder bleiben? So wie Turgut denken zwei Drittel der türkischstämmigen Akademiker in Deutschland über einen Fortzug nach. Bereits 2008 wurde dies in der Studie Türkische Akademiker und Studenten in Deutschland belegt. Vergangene Woche forderte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) attraktivere Perspektiven für Migranten mit Hochschulabschluss in Deutschland: „Der Brain-Drain läuft“, machte Migrationsforscher Klaus Bade deutlich und meinte dabei nicht nur Deutschtürken: „Wir vergraulen die neue Elite der Einwanderungsgesellschaft insgesamt“.
Tatsächlich hat Rahükal Turgut eine ausgezeichnete deutsche Bildungsbiografie: Die gebürtige Weselerin hat nach dem Abitur in Paderborn studiert: Anglistik, Amerikanistik und Medienwissenschaften. Im Anschluss hat sie für eine deutsch-türkische Umweltstiftung gearbeitet sowie als freie Mitarbeiterin für den Westdeutschen Rundfunk. Dass ihre Zukunft einmal in der Türkei liegen würde, war da noch nicht vorherzusehen. Doch unterschwellig blieb die Heimat ihrer Eltern bei ihr immer präsent. Ein Teil der Familie war dort geblieben. Als Kind verbrachte sie eine Zeit in der Türkei. Eltern und Verwandte erzählten oft Geschichten von früher. Sie sagt: „Ich fand es immer irgendwie schade, dass ich die Türkei und das Leben dort nicht richtig kannte.“
Doch auch die Aussicht auf Karriere machten ihr die Entscheidung einfacher, zu gehen. Sie habe sich im Verlagswesen schon „sehr gute Chancen eingeräumt“, sagt sie. Turgut beherrscht Türkisch und Deutsch akzentfrei. Die türkische Wirtschaft wächst, und Deutschland ist der größte Handelspartner. „Ist doch klar, dass es da Möglichkeiten gibt“, sagt sie.
Mobil, mehrsprachig und sehr gut ausgebildet – die Abwanderung dieser Elitegruppe treffe Deutschland besonders hart, sagt Kamuran Sezer, Soziologe und Leiter des Instituts Futureorg, das die Studie zur Abwanderung türkischer Migranten durchgeführt hat. Er spricht von einem „intellektuellen Aderlass, der die Lebensqualität in Deutschland insgesamt schmälert“. Die Politik müsse unbedingt günstigere Rahmenbedingungen schaffen, damit Akademiker mit Migrationshintergrund im Land gehalten werden können. Dafür nennt er vor allem den Abbau von „Arbeitsmarktbarrieren“. Seinen Studien zufolge bräuchten deutschtürkische Akademiker in Deutschland zurzeit nach ihrem Uni-Abschluss durchschnittlich zwei bis drei Jahre bis zum Einstieg in den Beruf. „Das sorgt natürlich für Frustration“, so Sezer.
Doch auch in der Türkei ist es für viele Deutschtürken nicht immer einfach. Davon kann beispielsweise Jale Bükcüoglu erzählen. Nach dem Studium in Stuttgart verließ die heute 38-jährige Diplom-Informatikerin Deutschland, um bei einem großen IT-Unternehmen in Istanbul anzufangen. Nach zweieinhalb Jahren kam sie wieder zurück. Das Heimweh hatte sie früh gepackt. Auch weil ihr Türkisch anfangs nicht perfekt war. Die Worte kamen ihr noch nicht flüssig über die Lippen. Die Kollegen fanden ihren Akzent „süß“. Hinzu kamen Arbeitsbedingungen, die der Schwäbin Schwierigkeiten bereiteten: Bükcüoglu erzählt von nur 15 Tagen Urlaub im Jahr und dazu schlechten Aufstiegsmöglichkeiten, bei denen häufig gute Beziehungen statt Qualifikation entscheidend seien.
Auch das Private machte ihr Probleme. Die Nachbarn hätten sich „für jeden Einkauf interessiert, den man macht“. Und einmal habe sie in einem Krankenhaus „im Stehen mit Schmerzen darauf warten müssen, das irgendein Fax von der Krankenkasse ankommt“. Heute sagt Bükcüoglu in weichem schwäbischen Tonfall: „Ich liebe Istanbul nach wie vor, aber bei mir hat es sich einfach summiert.“
Abwandern muss also nicht immer gleich auswandern bedeuten. Darauf verweist auch Soziologe Sezer: „Es ist ein steuerbares Phänomen und kein abgeschlossener Vorgang“. Die Politik könne und müsse Anreize schaffen, den jungen Akademikern Deutschland schmackhaft zu machen – und zwar schnellstmöglich.
Dass die Stimmung vieler Deutschtürken eher auf Abschied steht, hat auch Jale Bükcüoglu nach ihrer Rückkehr aus Istanbul erfahren. Von den Reaktionen ihrer deutschtürkischen Freunde in Stuttgart war sie überrascht. „Viele konnten es überhaupt nicht glauben“, sagt sie heute nachdenklich. „Dass ich nach Deutschland zurückgekommen bin, fanden sie einfach nur verrückt.“