»Jüdisch-christliche Kultur« – auf den Spuren eines Begriffs

Von Andreas Unger 08.12.2010

Europas Wurzeln
»Jüdisch-christliche Kultur« – auf den Spuren eines Begriffs

Jede zweite Kritik an Christian Wulffs Aussage »Der Islam gehört zu Deutschland« hat sich auf die »jüdisch-christliche Tradition« bzw. »Kultur« Deutschlands berufen. Die CDU hat gerade beschlossen, dass Zuwanderer sich an unsere »Leitkultur« zu halten haben, welche insbesondere geprägt sei durch »jüdisch-christliche Tradition«.

Der Begriff ist vieldeutig.
Zum einen bezeichnet er Offensichtliches, nämlich, dass das Neue Testament auf der jüdischen Religion fußt. »Jesus war schließlich kein Wikinger«, sagt Umberto Eco dazu. Im religiösen Bereich taucht dieser Begriff daher seit langem auf. Davon zeugen die vielen »jüdisch-christlichen Dialoge« oder, mehr auf das konkrete Zusammenleben bezogen, die zahlreichen »Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit«.
In den Geisteswissenschaften erhält der Begriff eine erweiterte Bedeutung. So versucht Jürgen Habermas, »griechische Metaphysik«, »jüdische Gerechtigkeits- und. christliche Liebesethik« als immer wieder neu angeeignete Wurzeln von Konzepten der säkularisierten Moderne auszumachen. Dabei verwendet er vereinzelt auch den Begriff »jüdisch-christlich«. Er kann aber auch gebraucht werden um auszudrücken, dass die europäische Geschichte von Persönlichkeiten jüdischer Herkunft, von Maimonides über Spinoza, die Mendelssohns, Heine und Marx bis hin zu Einstein, mitgeprägt worden ist.
Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, dass viele von ihnen der jüdischen Religion durchaus kritisch gegenüberstanden. (Im übrigen stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob unsere Kultur und damit unser Denken seit Jahrhunderten nicht vielleicht mehr noch von ganz anderen Entwicklungen beeinflusst ist als denen, die sich in religiösen Begriffen fassen lassen: von der Aufklärung und Säkularisierung, von den Naturwissenschaften und der Technik, ja schließlich, wenn man so will, vom Kapitalismus und den Denk- und Verhaltensmustern, die mit ihm einhergehen.)
Sollte nun aber drittens mit »jüdisch-christlich« eine Tradition des fruchtbaren oder zumindest erträglichen Zusammenlebens von Christen und Juden suggeriert werden, so ist der Begriff schlichtweg falsch. Bekanntermaßen war in der Geschichte im allgemeinen das Gegenteil der Fall. Aus diesem Grunde lehnen ihn auch so verschiedenartige jüdische Persönlichkeiten wie Avi Primor, der ehemalige Botschafter Israels, und Henryk M. Broder kategorisch ab.
Ein zweifelhafter Begriff also: Wieso kann er eine solche Konjunktur erleben?
Im öffentlichen Raum tauchte er offenbar zuerst in den USA auf, wo er anfangs noch im theologischen Sinn und dann in Abwehr antisemitischer Tendenzen gebraucht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete er dann das Bündel von Tugenden, das die USA
seit den puritanischen Pilgervätern groß gemacht habe. In diesem Sinn wird er von konservativen Politikern seit Eisenhower gebraucht. In einer Rede vor der Nationalen Vereinigung der evangelikalen Kirchen wendet Ronald Reagan sich 1983 zuerst im Namen der »jüdisch-christlichen Tradition« gegen Tendenzen zur Säkularisierung, die sich in Empfängnisverhütung, Abtreibung und Drogenmissbrauch äußern, bevor er dann
auf derselben Grundlage die »marxistisch-leninistische« Sowjetunion als »Reich des Bösen« kennzeichnet.
10 Jahre später ist der Feind ein anderer. In seinem berühmten Aufsatz von 1993 zitiert Samuel P. Huntington den Orientalisten Bernard Lewis »… This is no less than a clash of civilisations – the perhaps irrational but surely historic reaction of an ancient rival (gemeint ist der Islam) against our Judeo-Christian heritage, our secular present, and the world-wide expansion of both«, womit gleichzeitig ein anderes Schlagwort und Denkmodell, nämlich der »Kampf der Kulturen« erfunden war.
Im Zusammenhang damit, vermutlich befördert durch den 11. September 2001 und den folgenden »Krieg gegen den Terror« mit Israel als »Speerspitze«, breitet sich »jüdisch-christlich« nun auch in Europa im politischen Diskurs aus. Der Zeitpunkt ist deshalb bemerkenswert, weil so eine gängige Vermutung widerlegt wird, die Verwendung des Begriffs im öffentlichen Raum habe in der Nachkriegszeit begonnen – als Reaktion auf den Holocaust.
Nein, damals, also auch bei der Gründung der EWG als Vorläuferin der EU, war in der BRD das »christliche Abendland« in Mode, mit dem man sich sowohl von den Nazis als auch den Sowjets absetzen konnte. 2003 spricht sich die konservative Fraktion im Europaparlament unter Berufung auf die jüdisch-christliche Kultur« Europas gegen das Beitrittsgesuch der Türkei aus. Gleichzeitig möchte sie die »jüdisch-christlichen Wurzeln« in der Präambel des EU-Verfassungsvertrags verankert sehen, eine Forderung, der sich auch Angela Merkel immer wieder anschließt. Zur selben Zeit bemühte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder neben anderen Fundamenten der deutschen Kultur auch die »christlich-jüdische Religion«, um seine Ablehnung des Tragens von Kopftüchern im Staatsdienst zu begründen.
Nimmt man zu diesen Stellungnahmen nun die anfangs erwähnten Äußerungen der Wulff-Krititiker und den Leitantrag der CDU hinzu, so wird unschwer erkennbar was der Sinn der Verwendung des Begriffs »jüdisch-christlich« ist: nichts anderes als der Ausschluss des Islam und all dessen, was mit ihm verbunden wird, aus dem Bereich des Zusammenlebens
und der Gemeinsamkeit.
Auf die aktuelle Situation bezogen, ist deshalb den Kritikern von Christian Wulff einiges entgegengehalten worden. Wie aber steht es um die Vergangenheit? Gibt es dort eine Gemeinsamkeit mit dem Islam? Anders ausgedrückt, hat auch der Islam zur Entwicklung (West?) Europas beigetragen?
Timothy Garton Ash hat in der taz vom 8.11. zu Recht darauf hingewiesen, dass man sich bei der Beantwortung dieser Frage ganz besonders vor Voreingenommenheit hüten müsse und hat sie unter Hinweis auf die Tatsache, »dass sich Europa über Jahrhunderte gegen den Islam definiert hat«, dann eher verneint.
Das eine schließt aber nun das andere nicht aus, im Gegenteil: In seinem Bemühen um Widerlegung des Islam konnte Thomas von Aquin etwa der Fragestellung des spanisch-arabischen Philosophen Averroes, wie sich Offenbarungsreligion mit der Philosophie vereinen lasse, nicht ausweichen, was wiederum nicht ohne Einfluss auf sein theologisches System blieb. Und die Kriege gegen die Muslime in Spanien sowie die Kreuzzüge im Nahen Osten boten den Christen eben auch eine hervorragende Möglichkeit, die breite arabisch-islamische Kultur kennenzulernen – eine Kultur, an der übrigens nicht nur Juden, sondern anfangs auch Christen mitwirkten. und die sich ihrerseits vieles aus der griechisch-hellenistischen, persischen, indischen und chinesischen Kultur zunutze gemacht hat.
Dass die Europäer sich in der Folge verschiedenartigste Elemente dieser Kultur aus Wissenschaften, Medizin, Technik, und, wie sich in Wolfram von Eschenbachs »Parzival« zeigt, Lebensgewohnheiten der oberen Schichten angeeignet und anverwandelt haben, daran besteht mittlerweile kein Zweifel mehr. In jüngster Zeit haben dies beispielsweise die Bücher von Kurt Flasch über die Auseinandersetzungen in der Philosophie des Mittelalters und von Hans Belting über die Erfindung der Zentralperspektive noch einmal deutlich aufgezeigt.
Mit anderen Worten: Wenn man sich schon auf das fragwürdige Spiel mit den »Wurzeln« Europas einlässt, dann darf eine kleine arabisch-islamische Wurzel nicht vernachlässigt werden. Damit aber verlöre das »Jüdisch-christliche« seinen Ausschließlichkeitscharakter und wäre somit zum Ausschluss des »Islam« kaum mehr geeignet.
Andreas Unger arbeitet seit Langem zum Thema »Feindbilder, Kampf oder Zusammenwirken der Kulturen«. Bei Reclam veröffentlichte er das Buch »Von Algebra bis Zucker. Arabische Wörter im Deutschen«.

Quelle: