Was ist Integration? | Leserartikel | ZEIT ONLINE

Teil der Kultur: Türkische und arabische Zuwanderer. Foto: reuters

Seit Jahrzenten wird in Deutschland über die Integration der Einwanderer, insbesondere über die der türkischstämmigen Einwanderer diskutiert, ohne diesen Begriff zu definieren. Zwar wird dabei oft das Schlagwort benutzt, dass Integration „keine Einbahnstraße“ sei; doch die Schuld wird stets bei den Einwanderern gesucht. Dabei gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die diesen Begriff präzise definieren. So hebt Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny hervor, der in seinem Buch „Soziologie des Fremdarbeiterproblems“ (1973) die Integration der Einwanderer in der Schweiz untersucht hat, dass die Integration davon abhängt, ob die aufneh- mende Gesellschaft die Statuslinien – Bildung, Beruf, Einkommen – den Einwanderern öffnet oder sie weitgehend geschlossen hält. Er kommt zu dem Schluss, dass die Schweiz als Aufnahmegesellschaft die Statuslinien den Einwanderern in der Regel nicht öffnet.

Auch die Bundesrepublik Deutschland hält die Statuslinien – Bildung, Beruf, Einkommen – mittels geschriebener und ungeschriebener Gesetze den Einwanderern weitgehend geschlossen. Dabei ist irrelevant, ob die türkischstämmigen Einwanderer bereits deutsche Staatsbürger sind oder nicht und ob sie in Deutschkland geboren worden sind oder nicht: In Deutschland wird die Staatsbürgerschaft noch immer mit der Abstammung (ius sanguinis) gleichgesetzt, obwohl die Staats- bürgerschaft seit 2000 auf dem Geburtsortsprinzip (ius soli) beruht.

Um ein Beispiel für die Statuslinie „Bildung“ zu geben: Nachdem Deutschland in den PISA-Studien schlecht abgeschnitten hatte, wurde die Schuld auf die Migrantenkinder abgewälzt und in allen Bundesländern neue Schulgesetze erlassen. Sie alle sehen nun vor, dass die Deutschkenntnisse der Kinder ein Jahr vor der Einschulung untersucht werden sollen. Und wenn ein Kind nicht „ausreichend“ Deutsch kann, das „seinem Alter entspricht“, soll es zunächst in die Vor- schule geschickt werden (und dann freilich in die Sonderschule).. Dass bei diesen Sprachuntersuchungen, ob die Kinder mit sechs Jahren „ihrem Alter entspre- chend ausreichend“ Deutsch können oder nicht, die einsprachig aufwachsende deutsche Kinder als Maßstab genommen werden, liegt auf der Hand. Denn laut sprachwissenschaftlicher und -didaktischer Untersuchungen in Kanada und Australien erreicht ein Kind, das in zweisprachigem Lebensumfeld aufwächst (Familiensprache nicht identisch mit der Gesellschaftssprache) mit 6 – 7 Jahren in keiner Sprache das Niveau eines in einsprachigem Lebensumfeld aufwachsen- den Kindes. Hier sei auf zwei weitere Untersuchungen hingewiesen, und zwar die von Pertti Toukomaa & Tove Skutnabb-Kangas, die den Spracherwerb der in Schweden lebenden finnischen Kinder untersucht haben. Das Ergebnis der Untersuchung „The Intensive Teaching of the Mother Tongue to Migrant Children at Preschool Age“ (Tampere 1977) lautet: Finnische Kinder, die in der Grundschule auch Finnisch lernen, können besser Schwedisch lernen, als finnische Kinder, deren Familiensprache in der Schule nicht berücksichtigt wird. Seit dieser Untersuchung lernen finnische Kinder an schwedischen Grundschulen auch ihre Familiensprache Finnisch.

Anstatt die sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Untersuchungen umzusetzen und die „natürliche Zweisprachigkeit“ der türkischstämmigen Kinder

in der Grundschule zu berücksichtigen, werden sie in Deutschland wie einsprachige Kinder behandelt, um sie schon vor der Einschulung in die Sonderschule

(mit dem euphemistischen Namen „Förderschule“) zu schicken; d. h. um die Statuslinie „Bildung“ diesen Kindern von vornherein geschlossen zu halten. Dabei lautet der Auftrag der Schule in Deutschland „die Kinder dort abzuholen, wo sie sind und ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend

zu entwickeln.“ Dieser Auftrag der Schule scheint jedoch für die türkischstämmigen Kinder keine Gültigkeit zu besitzen. Das ist Ungleichbehandlung!

Es wird wie ein Leierkasten wiederholt, „die türkischstämmigen Kinder müssen Deutsch lernen“! Natürlich müssen sie Deutsch lernen, aber wie? Auf die Methode kommt es nämlich an! Andererseits wird nie die Frage gestelllt, ob die türkischstämmigen Migranten, die gut Deutsch können, auch ihrer Ausbildung entspre- chende Berufe ausüben dürfen? Daran werden sie nämlich auch gehindert, indem ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse nicht anerkannt werden. Abgesehen davon, das Ignorieren der Familiensprache der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen, deren Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, seitens der aufnehmenden Gesellschaft, in die sie sich gern integrieren wollen, von der sie anerkannt werden wollen, vermindert deren Selbstwertgefühl.

Auf diese Weise schafft die deutsche Gesellschaft ihre Machos selber!

Frau Dr. phil. Esin ILERI