Angriff auf das Herz der Türkei

Der Terror kehrt zurück: Ein Selbstmordattentäter hat sich vor einem Polizeiposten in Istanbul in die Luft gesprengt. Dabei wurden 32 Menschen verletzt, darunter 17 Passanten. Der Angreifer hatte vergeblich versucht, mit seiner Bombe am Körper in einen Einsatzbus zu gelangen.

Istanbul – Gelbes und rot-weißes Absperrband flattert am Taksim-Platz in Istanbul. Sonst hetzen hier Touristen zum Bus, Bettler fragen nach Almosen; Geschäftsleute trinken ihren Starbucks-Kaffee im Gehen, Taxis hupen, Dutzende Halbmondfahnen wehen im Wind. Es ist einer der lautesten und belebtesten Plätze der Stadt.

Von Daniel Steinvorth und Oliver Trenkamp, Istanbul

Männer in weißen und hellblauen Schutzanzügen laufen herum, Plastiktüten über den Schuhen, blaue Plastikhandschuhe an den Händen. Sie sammeln Spuren, fotografieren, filmen. Abgeschirmt von einem Großaufgebot der türkischen Polizei, Männern in dunklen Uniformen, Schirmmützen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Kranken- und Feuerwehrwagen belagern den Platz.

Neben einem Polizeibus liegt der leblose Körper eines Mannes, wenige Meter von einem Kiosk entfernt, notdürftig abgedeckt. Später werden einige Männer in Schutzanzügen den Körper in einem Sack davontragen und in einen Transporter wuchten.

Da ist der Mann bereits fünf Stunden tot. Er wurde 35 Jahre alt. Am Sonntagmorgen hat er eine Bombe gezündet, die er bei sich trug, und mindestens 32 Menschen verletzt, darunter 15 Polizisten.

Wie genau der Anschlag vor sich ging, dazu gibt es widersprüchliche Schilderungen. Der Istanbuler Polizeichef Hüseyin Capkin sagte, der Attentäter habe versucht, in einen geparkten Polizeibus zu gelangen. Als dies nicht gelungen sei, habe er seine Bombe gezündet. In der Nähe seien weitere Sprengsätze gefunden worden, die von Spezialisten entschärft würden. Beamte vor Ort sagen jedoch, der Attentäter habe seine Bombe im Vorbeigehen gezündet.

„Da rannten mir schreiende Menschen entgegen“

Als sicher gilt, dass sich der Anschlag gezielt gegen die türkische Polizei richtete. An jenem Punkt auf dem Taksim-Platz sind dauerhaft Beamte stationiert. Tag und Nacht stehen hier Polizeibusse. Istanbuls Gouverneur, Hüseyin Avni Mutlu, sprach von einem „Akt des Terrors“, auch wenn die Hintergründe noch unklar seien.

Noch Stunden nach dem Anschlag suchte eine Spezialeinheit nach weiteren Sprengsätzen. Der Fernsehsender CNN Türk berichtet, es sei ein weiterer Sprengsatz gefunden und entschärft worden.

Der Attentäter schlug am Sonntagmorgen zu, zwischen Viertel vor zehn und halb elf – auch hier sind die Angaben widersprüchlich. Der Rezeptionist des nahe gelegenen Hotels Metropark erinnert sich an den Knall und daran, wie das Haus und die Frontscheiben vibrierten. Er ging auf die Straße, um zu sehen, was passiert war: „Da rannten mir schreiende Menschen entgegen“, sagt er. Auch andere Zeugen berichten von Panik, davon, wie die Fliehenden übereinander stolperten und fielen.

Noch einige Häuserblöcke entfernt war die Explosion zu hören und zu spüren. Sie sei zwar keine ängstliche Frau, sagt Cemile Ataman, 40, Juwelierin, die etwa zehn Gehminuten entfernt vom Taksim-Platz wohnt. Doch an diesem Sonntag traute sie sich erst Stunden nach dem Frühstück aus dem Haus: „Erst als sie im Fernsehen sagten, dass keine Gefahr mehr droht.“ Sie saß gerade bei einem Glas Tee, als sie den „sehr lauten Knall“ hörte.

Steckt die PKK hinter dem Anschlag?

Ein Verdacht machte schnell die Runde, sowohl bei den Reportern und ihren Teams, die ihre Kameras am Busbahnhof aufgebaut hatten, als auch bei Ladenbesitzen und Schaulustigen auf dem Platz. Immer wieder hörte man auf die Frage, wer hinter dem Anschlag stecken könnte, drei verächtlich ausgesprochene Buchstaben: PKK. Viele hier meinen, ein solcher Selbstmordanschlag, das sei ganz eindeutig die Handschrift der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei.

Dafür spricht, dass am heutigen Sonntag ein einseitiger erklärter Waffenstillstand der PKK auslief. Mehrfach hatten die Untergrundkämpfer in den vergangenen Monaten den Staat dazu aufgerufen, sich der Waffenruhe anzuschließen und Verhandlungen über eine Lösung der Kurdenfrage zu beginnen – allerdings unter Beteiligung ihres inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalans, was die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vehement ablehnt.

Ein Sprecher der PKK erklärte jedoch gegenüber CNN International, dass seine Organisation über das heutige Attentat nicht informiert gewesen sei. Er erinnerte auch daran, dass sich der derzeit amtierende PKK-Chef Murat Karayilan vor einer Woche in einem Interview für den Tod von Zivilisten entschuldigt habe. Anschläge der PKK, so die Botschaft Karayilans, sollten sich künftig ausschließlich gegen militärische Ziele richten.

Man solle nicht voreilige Schlüsse ziehen, warnte auch Cevat Önes, ein ehemaliger Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT gegenüber CNN. Das heutige Attentat könne auch als Sabotageakt gegen die „Kurdeninitiative“ der Regierung verstanden werden. „Es ist falsch, den Namen einer Organisation zu nennen.“

Der Tatort ist ein beliebtes Ziel – für Türken und Touristen

Wahrscheinlicher könnte da schon eine Beteiligung der sogenannten Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) sein. Die radikale Splittergruppe, die in den vergangenen Jahren mehrfach Anschläge auf Zivilisten ausgeübt hat, distanziert sich von der PKK, die ihr nicht entschlossen genug erscheint.

Auch linke Gruppen wie die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) und radikale Islamisten kämen in Frage. Sicherheitsexperten machen seit längerer Zeit auf die wachsende Gefahr dschihadistischer Zellen in der Türkei aufmerksam. Erst in der vergangenen Woche nahm die Polizei in fünf türkischen Städten mutmaßliche Qaida-Mitglieder fest.

Doch egal, wer hinter dem Attentat steckt, er trifft Istanbul an einem zentralen Ort. Am Taksim, im europäischen Teil der Stadt, laufen mehrere Verkehrsadern zusammen: Hier kreuzen sich mehrere U-Bahnlinien, hier fahren die Busse zu den Flughäfen, Touristen und Türken treffen sich hier zum Ausgehen, Shoppen, Feiern. Hier beginnt die Istiklal, jene Einkaufsstraße, von der es heißt, dass Tag für Tag zwei Millionen Menschen hindurchschlendern.

Allerdings verkleinerte die Polizei schon wenige Stunden nach dem Anschlag die Sperrzone, gab den Taksim in weiten Teilen wieder für Autos, Busse, Taxis frei. Die Restaurants öffneten wieder, die Blumenhändler durften an ihre Stände zurück. Und auch die Juwelierin Ataman traute sich zum Platz, nachdem sie Freunde und Verwandte angerufen hatte, um zu sagen: „Mir ist nichts passiert.“