Rechtspopulismus pur.

Rechtspopulismus pur.

Christoph Butterwegge Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau, 29.08.2010

Thilo Sarrazin ist mitsamt dem von ihm veröffentlichten Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in aller Munde. Vermutlich rührt sein publizistischer Erfolg daher, dass er wichtige Diskurse der letzten Jahre (z.B. den Demografiediskurs: „Die Deut- schen sterben aus“; den Migrationsdiskurs: Zuwanderer – seit dem 11. September 2001 hauptsächlich Muslime – überschwemmen bzw. überfremden uns; den Sozial- staatsdiskurs: Hartz-IV-Bezieher/innen sind gar nicht „wirklich“ arm, sondern plün- dern uns aus, weil der Sozialstaat zu großzügig ist) bündelt und teilweise noch zu- spitzt. Offenbar trifft der Bundesbank-Vorstand und frühere Berliner Finanzsenator mit seinen äußerst polemischen Vorwürfen gegenüber sozial benachteiligten Minder- heiten thematisch wie politisch-inhaltlich den neoliberal geprägten, aber auch von Deutschtümelei nicht freien Zeitgeist. Diskutiert wird in erster Linie darüber, ob es sich bei Sarrazins Thesen um einen mutigen Tabubruch oder um einen typischen Fall von Rassismus, Sozialdarwinismus und Rechtspopulismus handelt. Die drei zu- letzt genannten Begriffe gewinnen durch Sarrazins Stimmungsmache gegenüber Armen und Migrant(inn)en muslimen Glaubens, die er als Gründer von „Parallelge-

3sellschaften“, bildungsunwillige „Leistungsverweigerer“, potenzielle Gewalttäter und „Sozialschmarotzer“ verunglimpft, besondere Relevanz, weshalb sie hier im Zentrum des Interesses stehen.

Zunächst fallen Sarrazins elitäres Bewusstsein, Überlegenheitsgefühle und intellek- tueller Dünkel auf. Den einheimischen Unterschichten, aber mehr noch den muslimi- schen Migrant(inn)en wirft Sarrazin einen für die Sicherung von Deutschlands Welt- marktstellung zu geringen Intelligenzgrad vor. Sarrazin verwechselt freilich Ursache und Wirkung: Die meisten Muslime, die als Migranten in Deutschland leben, sind nicht arm, weil sie dumm wären, sondern nur schlecht (aus)gebildet, weil sie sozial benachteiligt und vornehmlich im Bildungsbereich diskriminiert werden. Wer die sozi- alen Nach- und die ökonomischen Vorteile der Beschäftigung von „Gastarbeitern“ früher bzw. von muslimischen Migranten heute im Rahmen einer Kosten-Nutzen- Analyse gegeneinander aufrechnet, wie dies Sarrazin in seinem Buch voller Zahlen- akrobatik tut, hat mit der Fundamentalnorm unserer Verfassung („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) gebrochen, und genau das ist der Kern eines jeden Ras- sismus.

Sarrazin leugnet gleichwohl, ein Rassist zu sein, und führt zum Beweis an, dass er nirgends ethnische, sondern ausschließlich kulturelle Abgrenzungen vornehme. Ab- gesehen davon, dass diese Schutzbehauptung spätestens seit seinen Auslassungen über die Gene der Juden obsolet ist, ersetzt die angeblich kulturell bedingte Fremd- heit zwischen den Ethnien im zeitgenössischen Rassismus allerdings die Höher- bzw. Minderwertigkeit der selbst von manchen Neonazis nicht mehr für zeitgemäß gehaltenen „Rassen“. An die Stelle des biologistischen ist der kulturalistische bzw. differenzialistische Rassismus getreten, ohne dass sich hierdurch mehr als dessen Erscheinungsformen geändert hätten. Kulturrassisten differenzieren zwischen Mig- rant(inn)en stärker nach dem Grad ihrer volkswirtschaftlichen Nützlichkeit. Einer der Hauptvorwürfe Sarrazins gegenüber den zuwandernden Muslimen besteht denn auch in ihrer mangelhaften (Aus-)Bildung bzw. ihrer rückständigen Kultur, die sie für ihn als der abendländischen Hochindustrie nicht gewachsen erscheinen lässt. Folge- richtig möchte Sarrazin mittels „äußerst restriktiver“ Maßnahmen „nur noch Spezialis- ten am obersten Ende der Qualifikationsskala“ einwandern lassen.

Als rechtspopulistisch werden Bestrebungen bezeichnet, die den Dualismus von „Volk“ (im Sinne von „ethnos“ oder „demos“), „Bevölkerung“ bzw. „mündigen Bür- gern“ und „Elite“, „Staatsbürokratie“ bzw. „politischer Klasse“ zum Dreh- und Angel- punkt machen. Sarrazins ganzes Denken kreist um Deutschland und das „eigene“ Volk. Das von Sarrazin besetzte Thema der „Islamierung“ rücken alle Rechtsaußen- gruppierungen seit geraumer Zeit in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda: von der „PRO“-Bewegung über die REPublikaner, die DVU und die NPD bis zu den Neonazi-Kameradschaften. Nur ein aufgrund seiner herausgehobenen beruflichen Stellung prominenter Demagoge wie Sarrazin ist jedoch in der Lage, bürgerlich- seriös aufzutreten und Verbündete in etablierten Kreisen zu finden, obwohl es ihm hauptsächlich um die Befriedigung seiner persönlichen Eitelkeit durch permanente Medienpräsenz gehen dürfte.

Kulturell-religiöse Gegensätze basieren meist auf tiefer liegenden Konflikten, die von Ideologen wie Sarrazin eher verschleiert werden. Für eine Jagd auf Sündenböcke bieten sich in der globalen Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise die Muslime auf- grund ihres schlechten Images nach dem 11. September 2001 zusammen mit anderen ethnischen und sozial benachteiligten Minderheiten geradezu an. Deshalb muss umgekehrt vermittelt werden, dass Zuwanderung wie auch – daraus resultierend – die Koexistenz von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser Be- kenntnisse und kultureller Prägungen im Zeichen der Globalisierung zur Normalität westlicher Industriegesellschaften gehören. Armut wird schließlich nicht von Mig- rant(inn)en muslimischen Glaubens „importiert“, sondern vom kapitalistischen Wirt- schaftssystem selbst und von einer falschen Regierungspolitik hierzulande produ- ziert. Schuld an der zunehmenden Spaltung in Arm und Reich sind also nicht im Niedriglohnbereich und im Transferleistungsbezug konzentrierte Zuwanderer, son- dern nationale Eliten, die ihrerseits eine Parallelgesellschaft herausbilden, wenn sie Luxusquartiere bewohnen und sich auch räumlich immer deutlicher abschotten.