Die Türkei könnte im nächsten Jahrzehnt das am schnellsten wachsende Land der Welt nach China und Indien sein
Trotz des jüngsten Staatsbesuches des deutschen Bundespräsidenten in Ankara glaubt kaum ein Beobachter in Berlin und Brüssel, dass die Türkei in der absehbaren Zukunft Mitglied der EU sein könnte. Dieser Befund scheint auf den ersten Blick überraschend zu sein, da das Land gerade in den letzten zehn Jahren laut einer Beilage der Londoner Wochenzeitung The Economist wirtschaftlich und politisch erstaunlich Erfolge erreicht hat.
Im September gewann die vom Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan geführte Regierungspartei für „Gerechtigkeit und Entwicklung“(AKP) die Volksabstimmung über die Änderung der Verfassung zwecks stärkerer Kontrolle der Armee. Nach einem dynamischen Wirtschaftsaufschwung mit einer jährlichen Wachstumsrate von sechs Prozent zwischen 2002 und 2008 und mit einem erwarteten Wachstum von fast acht Prozent für 2010 könnte die Türkei im nächsten Jahrzehnt das am schnellsten wachsende Land der Welt nach China und Indien sein.
Dass laut manchen Experten die Türkei bis 2050 zur zehntgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen könnte, hängt auch mit der demografischen Entwicklung zusammen. Das Durchschnittsalter der 72 Millionen Einwohner beträgt nur 27 Jahre gegen einen Durchschnitt von über 40 Jahren in der EU. Bis 2050 soll die Bevölkerung fast 100 Millionen stark sein. Damit würde das Land mit Abstand die größte Bevölkerung weit vor Deutschland aufweisen.
Es geht aber eben darum, dass trotz eindrucksvoller wirtschaftlicher und politischer Reformen für die Türkei der Abschluss der nach langem Tauziehen im Oktober 2005 eröffneten Beitrittsverhandlungen mit der EU in weite Ferne rückt.
Mehr als die Hälfte der 35 Verhandlungskapitel bleiben gesperrt, in erster Linie wegen des Zypernkonflikts, in einigen Fällen auch durch Frankreich. Darüber hinaus handelt es sich freilich vor allem darum, dass sowohl die Regierungen wie auch die große Mehrheit der Wähler in Frankreich und Holland, in Deutschland und Österreich wiederholt klar gemacht haben, dass sie eine volle Mitgliedschaft für die Türkei ablehnen. Die Hinweise auf eine „privilegierte Partnerschaft“ werden von der türkischen Elite als eine inhaltsleere Worthülse betrachtet. Laut einer Umfrage des deutschen Marschall-Plan-Fonds unterstützen heute nur 38 Prozent der Türken einen EU-Beitritt; 2004 waren es 73 Prozent.
Bereits heute wird die Türkei als wichtige Regionalmacht angesehen. Die Annäherung an Irak, Iran und Syrien steht in krassem Gegensatz zum Konflikt mit Israel seit der Gazaoffensive und der Abkühlung der Beziehungen zu den USA. Die Hilfe des Währungsfonds und die Perspektive der EU-Mitgliedschaft waren externe Antriebskräfte bei der Transformation der Türkei. Innenpolitische Turbulenzen wegen der Kurdenfrage (14 Prozent der Bevölkerung), wuchernde Korruption in der Regierungspartei, autoritäre Tendenzen des Ministerpräsidenten unter anderem bei der Einschränkung der Medienfreiheit könnten die einzige funktionierende Demokratie in einem moslemischen Land gefährden. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 28.10.2010)
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