Die allerwenigsten Türken kennen ihn – und so richtig erwartet eigentlich niemand etwas von Bundespräsident Wullfs Besuch in der Türkei. Aber ein Thema interessiert dann doch: der Wunsch nach einer EU-Mitgliedschaft. Die deutsche Integrationsdebatte ist hingegen kein Thema.
Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkstudio Istanbul
„Was sagten Sie, der deutsche Präsident? Wulff? Hab‘ ich zuvor nie gehört!“ Die Antwort der jungen Istanbulerin ist typisch: Bundespräsident Christian Wulff ist am Bosporus so gut wie unbekannt. Und dass er in die Türkei reist, ebenfalls.
Entsprechend geht Dogan Tilic, Soziologieprofessor an der Middle East Technical University in Ankara und Kolumnist der Tageszeitung „Bir Gün“, davon aus, dass die Visite des deutschen Staatsoberhauptes – zumindest aus türkischer Sicht – mit nicht allzu hohen Erwartungen verknüpft ist: Weder in den Medien, noch in der Öffentlichkeit werde der Besuch intensiv wahrgenommen. „Von daher gesehen wird dieser Besuch vor dem Hintergrund der eigenen innenpolitischen Debatte der Türkei wohl eher unspektakulär verlaufen“, meint er.
Keine Debatte über Integrationsdebatte
Die deutsche Integrationsdebatte interessiert in der Türkei nur Spezialisten.Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die so genannte Integrationsdebatte in Deutschland – also die Diskussion um die Äußerungen von Thilo Sarrazin und Horst Seehofer sowie die Rede Wulffs zum Nationalfeiertag am 3. Oktober – in der Türkei von der Allgemeinheit so gut wie nicht wahrgenommen wird. Einige Zeitungen haben ihr zwar kleinere Berichte gewidmet, doch die Deutschen mit türkischen Wurzeln interessieren am Bosporus weit weniger als man in Berlin, Hamburg oder München manchmal annimmt.
Lediglich einige türkische Intellektuelle haben die Debatte in Deutschland verfolgt, beispielsweise der Migrationsforscher Ayhan Kaya: „In der rot-grünen Regierungsperiode wurde die Integrationsfrage oder die Diskussion um den Platz des Islam in der Gesellschaft nicht so hochstilisiert, wie unter der überwiegend christdemokratischen Regierung.“
Für Kaya ist die momentane Auseinandersetzung um Integration in Deutschland keine Überraschung. Sie sei ein zwangsläufiges Phänomen der immer stärker vernetzten Welt und die Folge von Unsicherheit auf beiden Seiten – sowohl bei denen, die mit fremden Wurzeln in einem neuen Land Heimat suchen, als auch bei den Einheimischen: „Die Welt verändert sich in einem schnellen Tempo und die Menschen klammern sich an traditionelle, bekannte Referenzen und Werte. Sie fürchten ihren Verlust. Das bringt einen Reflex nach dem Motto mit sich: Ich will nur das, was mir vertraut ist. Meiner Meinung nach spielt sich in Deutschland eben genau das ab.“
Den Türken geht es um die EU
Streitthema EU-Beitritt: Die Türken sind von Deutschlands Haltung enttäuscht.Dass all diese Aspekte beim Besuch des Bundespräsidenten in der Türkei zur Sprache kommen, ist nicht zu erwarten. Eher dürfte man die vielfältigen und intensiven gegenseitigen Beziehungen unterstreichen. In diesem Rahmen könnte allerdings noch einmal die von Ankara angestrebte Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union thematisiert werden. Denn am Bosporus ist man vom bisherigen Engagement Deutschlands in dieser Frage ziemlich enttäuscht – und das CDU-Mitglied Wulff hatte jüngst für einen fairen Umgang mit der Türkei plädiert.
Entsprechend betont Soziologieprofessor und Kolumnist Tilic: „Die Türkei wird während des Besuchs des Bundespräsidenten sicherlich noch einmal ihren festen Willen und Glauben an den EU-Beitrittsprozess bekunden.“ Und sie werde unterstreichen, dass man sich von der EU, insbesondere aber von Deutschland wünscht, „dass dieser Prozess nicht durch Vorschläge wie zum Beispiel eine privilegierte Partnerschaft untergraben werden, die nicht in eine Vollmitgliedschaft münden“.
Die offizielle Visite Wulffs beginnt heute früh mit einer Kranzniederlegung am Mausoleum von Staatsgründer Kemal Atatürk.