„Rassismus mit Krawatte“

Von Boris Kálnoky und Freia Peters

Istanbul/Berlin – „Türkische Migranten befürchten Anstieg von Ausländerfeindlichkeit in Deutschland“ – mit dieser Schlagzeile veröffentlichte die türkische Zeitung „Hürriyet“ gestern einen Artikel ihrer englischsprachigen Online-Version. In jüngster Zeit waren mehrere Studien über die Einstellung der Deutschen gegenüber Ausländern, insbesondere gegenüber Türken und Muslimen erschienen. Manche türkische Medien sehen in den Ergebnissen den Beweis für einen neuen deutschen Rassismus.

Der Artikel in der „Hürriyet“ beruft sich vor allem auf die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Mitte in der Krise“ über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Forscher der Universitäten Leipzig und Siegen hatten in einer repräsentativen Umfrage Deutsche nach der Zustimmung zu verschiedenen Aussagen gefragt. 32 Prozent etwa bejahten den Satz „Wo es zu wenige Arbeitsplätze gibt, da sollten Ausländer nach Hause geschickt werden“. 34 Prozent stimmten dem Satz zu, Ausländer kämen nur nach Deutschland „um das deutsche Sozialsystem auszunutzen“. 35 Prozent waren der Meinung, dass Deutschland einem gefährlichen Niveau „ausländischen Einflusses ausgesetzt“ sei. Auch nach islamfeindlichen Aussagen wurde gefragt. Gut 55 Prozent hatten dem Satz „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind“ zugestimmt. 58 Prozent gaben an, die Religionsausübung für Muslime sollte erheblich eingeschränkt werden.

Vor dem Hintergrund der Sarrazin-Debatte und einer anderen Studie, wonach deutsche Jugendliche keine türkischen Nachbarn haben wollen, schreibt „Hürriyet“, stärke die Studie Ängste unter Deutschtürken, sie seien die nächsten Juden. In diesem Sinne wird der Wortführer der deutschtürkischen Gemeinschaft, Kenan Kolat, zitiert: „Am gefährlichsten ist, dass Rassismus in Deutschland sich wandelt von einem Nazi-Aussehen hin zu einem ‚Rassismus mit Krawatte‘. Der existierende Rassismus bewegt sich auf die Mitte der Gesellschaft zu, wird zu einem kulturellen Mittelklasserassismus.“ Neu sei die Bereitschaft, solche einst verdeckten Ressentiments offen auszudrücken. Kolat klagt in dem Artikel: „Wir haben große Bedenken. Könnte es zu Gewalt führen? Ich hoffe nicht, aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht ausschließen können“.

Auf Nachfrage der WELT bekräftigt Kolat seine Aussagen. „Ich habe Angst, das ist richtig. Die ganze Situation erinnert mich an die unsägliche Asyldebatte. Man darf und soll mich hart kritisieren – aber ich werde seit einigen Wochen bedroht, ich sei ein Scheißausländer, dabei bin ich deutscher Staatsbürger.“

Die Beschimpfungen hätten in den vergangenen Wochen eine ungeahnte Härte bekommen, sagt Kolat. „Ich bekomme anonyme Anrufe, Verunglimpfungen per Mail. ‚Wie können Sie von Frau Merkel etwas fordern? Sie sind ein Türke und werden es immer bleiben!‘ Ich traue mich im Moment nicht, alleine U-Bahn zu fahren, ich schlafe schlecht, das geht meinen Mitarbeitern ähnlich. Es ist genau wie Anfang der 90er-Jahre – da hat es wenig später gebrannt.“

„Hürriyet“ zitiert auch Bekir Alboga von der Türkisch-Islamischen Union (Ditib). Die staatliche türkische Organisation betreibt von der Türkei aus den Großteil der Moscheen in Deutschland und entsendet Imame. „Antisemitismus wird durch Islamophobie ersetzt“, sagt Alboga in dem Artikel. „Es ist erschreckend, dass antiislamische Gefühle in Deutschland zunehmen, trotz aller Bemühungen der deutschen Regierung, das Integrationsproblem zu lösen.“

„Hürriyet“ verweist in ihrem aktuellen Artikel auf die offizielle türkische Politik, Deutschtürken zur Integration zu ermutigen, aber sie auch darin zu bestärken, sich gegen „Assimilation“ zu wehren. In diesem Zusammenhang sei der Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff in der kommenden Woche in der Türkei eine weitere Gelegenheit, über Integrationsprobleme zu sprechen. Wulff hatte zuvor mit einer kontroversen Rede in Deutschland Wirbel und in der islamischen Welt Freude ausgelöst: Auch der Islam gehöre zu Deutschland, hatte der Bundespräsident darin erklärt.

In Deutschland haben unterdessen Migrantenverbände den Ruf nach einer Deutschpflicht auf Schulhöfen heftig kritisiert. „Dies führt zu Stigmatisierung der Migrantensprachen“, hieß es am Freitag in einer gemeinsamen Erklärung. Die Kultusminister kamen am Morgen in Berlin mit Migrantenvertretern zu Gesprächen über Chancengleichheit für Kinder zusammen. Für eine Deutschpflicht hatte sich unter anderem die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), ausgesprochen.

„Die Erstrangigkeit der deutschen Sprache ist für uns selbstverständlich“, erklärten die Verbände weiter. „Nur über die Wege dazu sollte gesprochen werden.“ Es sei ein Skandal, dass Schulen ausgezeichnet werden, weil sie Kindern mit ausländischen Wurzeln in der Pause die Benutzung ihrer Muttersprache verbieten. Die Fokussierung allein auf den Erwerb der deutschen Sprache lenke von den eigentlichen Problemen wie selektives Bildungssystem, geringe Ausbildungsbeteiligung aufgrund von Diskriminierungen und hohe Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Migrationshintergrund ab. Zu den Unterzeichnern der Erklärung zählen die Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, der Verband Deutsch-Arabischer Vereine und die Türkische Gemeinde in Deutschland.

Quelle: Die Welt