Österreichs Politik stärke konservative Kräfte, anstatt säkuläre TürkInnen zu unterstützen, kritisiert Birol Kilic von der Türkischen Gemeinde
Warum fühlen sich viele AustrotürkInnen in Österreich nicht so gut integriert wie andere MigrantInnen-Gruppen? Eine vom Innenministerium in Auftrag gegebene Studie führte zu diesem Ergebnis. Viele glaubten in der stärkeren Religiosität einen Grund dafür zu finden. Birol Kilic, Obmann der Türkischen Kulturgemeinde in Österreich, sieht das anders: Antitürkische Hetze und negative Berichterstattung führten erst dazu, viele TürkInnen zum Rückzug in die Moschee zu bewegen. Die politische Mitte fördere den politischen Islam, dabei sollte sie säkuläre TürkInnen unterstützen, meint Kilic.
derStandard.at: In letzter Zeit schaffen es türkische Communities wieder auf die Titelseiten der Zeitungen. Da liest man Schlagzeilen wie „Die türkische Frage“, „Die türkische Parallelwelt“ oder „Lange hier und trotzdem fremd“. Wie geht es Ihnen damit?
Kilic: „Die türkische Frage“ – das ist eine Terminologie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Damals war von der „Judenfrage“ die Rede. Ich will das nicht direkt vergleichen, aber ich finde es erschütternd. Schauen Sie sich die Zeitungen an: In Boulevardmedien werden in den Leserbriefen Türken als „Untermenschen“ bezeichnet. Ich sage Ihnen: Wenn das so weiter geht, dann wollen sich die Leute tatsächlich nicht mehr integrieren. Denn wenn man mir hundert Mal jemand sagt: „Du bist dumm“, dann sage ich irgendwann: „Gut, dann bin ich eben dumm.“
derStandard.at: Es gibt in der dritten Generation besonders viele, die sich hier als nicht integriert bezeichnen.
Kilic: Diese Jugendlichen erleben draußen, dass sie diskriminiert werden, also ziehen sie sich zurück. Drinnen holen sie sich die Türkei via Satellitenfernsehen in die Wohnung und hören Dinge, die mit dem Leben hier gar nichts zu tun haben. Es ist nur verständlich, sich da unwohl zu fühlen.
derStandard.at: Es klingt so, als seien die AustrotürkInnen allesamt Opfer der Umstände.
Kilic: Beide Seiten machen Fehler. Aber es ist Tatsache, dass es eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit in Österreich gibt, das beweist ja auch die Studie der Innenministerin.
derStandard.at: Wie erklären Sie sich die ausgeprägte Skepsis gegenüber Zugewanderten?
Kilic: Ich kenne das von der Türkei: Die zugewanderten Minderheiten wollten immer die besseren Türken sein. In Österreich ist es genauso. Die Leute kommen aus Böhmen, aus Ungarn, und wollen die besseren Österreicher sein. Dann schimpfen sie noch lauter über die Türken als alle anderen. Manche Parteien hetzen die Migranten gegeneinander auf. Aber die Austrotürken sind keine Geiseln, die man wie Marionetten hin- und herschieben und beschimpfen kann.
derStandard.at: Warum organisieren sich türkische Communities nicht? Wenn die FPÖ gegen TürkInnen hetzt, hört man selten einen Aufschrei.
Kilic: Das ist das größte Problem. Viele können nicht aufstehen, jeder hat Angst um Job, Wohnung, Familie. Wenn ich in meiner Zeitung etwas Kritisches schreibe, muss ich um Inserate fürchten. In die Politik schaffen es nur überangepasste Türken, die immer lächeln, sich als Super-Türken verkaufen, jedes Jahr drei Zentimenter mehr Bauchumfang haben, und nie offen reden. Aber dieses Land braucht aufrichtige Menschen, die Probleme aufzeigen.
derStandard.at: Welche Probleme meinen Sie?
Kilic: Türkische Kinder werden in Sonderschulen geschickt. Diese Jungen beginnen gerade, uns Probleme zu machen. Und viele Eltern sagen, bevor mein Kind in die Sonderschule kommt, schicke ich es in eine religiöse Privatschule. Das ist ein Problem.
derStandard.at: Sehen Sie einen Trend zum religiösen Konservativismus unter den AustrotürkInnen?
Kilic: Ja, seit fünf, sechs Jahren breitet sich ein politischer Islam aus. Wobei das Problem nicht der Islam ist, sondern jegliche Art von politisiertem Glauben. Parteien aus der Türkei gründen in Österreich Verbände, die einen politischen Islam verbreiten und sich zu Vertretern der Türken in Österreich aufspielen. Aber haben Sie jemals gehört, dass jemand von ihnen aufgestanden ist und die Türken laut vertreten hat? Das größte Problem ist, dass sich die österreichische Politik hier extrem tolpatschig verhält: Unter dem Vorwand des Dialogs wird die Unwissenheit österreichischer Politiker über den politischen Islam ausgenutzt. Es kann nicht sein, dass Funktionäre der Islamischen Glaubensgemeinschaft auch Funktionen in politischen Parteien besetzen.
derStandard.at: Sie sprechen von (dem Wiener SP-Landtagsabgeordneten) Omar Al-Rawi.
Kilic: Das haben Sie gesagt. Aber es gibt auch andere Beispiele. Die Bürger dieses Landes müssten aufstehen und sagen: Wir wollen keine Einmischung der Religionen in die Politik. Wir wollen auch keine Wahlpropaganda am Sonntag in der Kirche haben. Die Islamische Glaubensgemeinschaft ist einzigartig in Europa. Aber man sollte hinterfragen, wie demokratisch es ist, wenn eine Organisation, die nur ein paar Hundert Leute als Mitglieder hat, als Ansprechpartner von 400.000 Muslimen in Österreich akzeptiert wird.
derStandard.at: Wir sprachen nicht von Muslimen, sondern von TürkInnen.
Kilic: Genau, und das ist das Problem. Die Republik braucht Säkularismus. Religion hat in der Politik nichts zu suchen.
derStandard.at: Aber wie wichtig ist der Säkularismus den türkischstämmigen Communities? Laut GFK-Studie wünscht sich ein Drittel der AustrotürkInnen, dass religiöse Gebote auch in die staatliche Gesetzgebung einfließen.
Kilic: Ich glaube, dass sich das auch viele religiöse Mehrheitsösterreicher vorstellen könnten. Aber natürlich muss man zugeben, dass es auch türkische Gegner des Säkularismus gibt. Ich würde trotzdem sagen: 70 Prozent der Türken in Österreich sind säkular eingestellt.
derStandard.at: Dennoch beginnen sich Frauen zu verschleiern, deren eigene Mütter kein Kopftuch tragen. Ist das kein Zeichen stärkerer Religiosität?
Kilic: Selbstverständlich werden die Kopftuchfrauen mehr. Das wundert mich nicht: Je mehr die Muslime draußen angefeindet werden, desto mehr ziehen sie sich in die Kulturvereine zurück. Und dort ist der religiöse Druck viel stärker: „Ich trage ein Kopftuch, warum trägst du keines?“. Davon unterscheide ich aber Frauen, die eigenständig Ihre Entscheidungen treffen.
derStandard.at: Ihrer Meinung nach stärkt also rechte Propaganda den politischen Islam in Österreich.
Kilic: Die Rechtsextremen sind harmlos – wir wissen, wer sie sind und was sie denken. Für wirklich gefährlich halte ich die politische Mitte in Österreich. Sie macht den politischen Islam in Österreich salonfähig. Die Parteien machen Propaganda in den Moscheen, sie feiern, und verwenden dabei religiöse Begriffe, um Stimmen zu sammeln. Die Parteien gehen zu den Islamischen Verbänden und sagen: „Wir wollen mit euch kooperieren.“ Das nennen sie Dialog und Toleranz. Man schickt sogar Parteimitglieder aus, damit sie Mitglieder in Moscheevereinen werden. Ich frage mich: Warum in der Moschee? Nun fangen die Anhänger des politischen Islam sogar an, eigene parteienähnliche Organisationen zu gründen und Druck auf die österreichischen Parteien zu machen. Das wollen wir nicht.
derStandard.at: Mit welchen türkischen Vereinen könnte die Politik denn sonst reden? Den kritischen, säkularen AustrotürkInnen fehlt es offenbar an Selbstorganisation.
Kilic: Wir sind müde. Wir sehen, in welche Richtung es in der Türkei geht, und das hat natürlich Einfluss auf die Türken in Europa. Und wir sehen, dass die österreichische Politik die traditionllen Islamanhänger stärkt. Das nimmt uns Kraft. Diese Vereine eröffnen Kulturzentren, schreiben „Moschee“ drauf, und machen Politik aus dem Ausland. Der Islam braucht keine Hirten, er ist eine individualistische Religion. Zwischen Gott und Mensch brauchen wir niemanden.
derStandard.at: Wie sollte man mit dem politischen Islam umgehen?
Kilic: Man muss die schlimmsten Vereine identifizieren, die auch sehr nobel auftreten, und sich von ihnen distanzieren und nicht salonfähig machen.
derStandard.at: Laut der Studie des Innenministeriums haben auffällig viele TürkInnen Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. Fühlen Sie sich von der Politik ausreichend unterstützt?
Kilic: Überhaupt nicht. Aber das kann die Politik auch nicht. Schließlich reden die wenigsten über ihre Diskriminierungserfahrung, man schämt sich. Man schluckt das und zieht sich zurück.
derStandard.at: Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck, es sei bereits zu spät.
Kilic: Es gibt türkische Frauen, die sich tatsächlich nur zwischen Wohnung, Park und Moschee bewegen. Das ist traurig. Aber man sollte aufhören, sie als Fremdkörper zu betrachten. Es wäre wichtig, dass es möglichst gemischte Wohngegenden gibt. Und die Partipation der Frauen muss unterstützt werden.
derStandard.at: Gerade die Gemeindebauten sind ziemlich durchmischt.
Kilic: Ja, aber dort pflegen die Österreicher ja selber ihre Probleme. Ich wohne mit Österreichern im Haus, und die grüßen nicht einmal ihre Nachbarn. Aber mit ihren Tieren sind sie sehr innig. Allgemein sind viele Österreicher extrem einsame Menschen, die mit wenigen Leuten Kontakt haben und wenn, sehr distanziert sind. Aber wenn man sich bemüht, kann man wahre Freundschaften finden. (Maria Sterkl, derStandard.at, 30.10.2009)
Zur Person
Birol Kilic ist Obmann der Türkischen Kulturgemeinde in Österreich. Er leitet den in Wien ansässigen Neue Welt Verlag und Herausgeber der türkischsprachigen Zeitung Yeni Vatan Gazetesi und des in deutscher Sprache erscheinenden Magazins „Einspruch“. Außerdem gestaltet Kilic Korrespondentenbeiträge für türkische TV-Sender und ist Vorstandsmitglied im Verband der Auslandspresse in Wien.
derstandard, 30.10.2009 Printausgabe
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