Verfassungsreferendum

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Verfassungsreferendum
Türken stimmen für mehr Demokratie
zuletzt aktualisiert: 12.09.2010 – 19:04

Istanbul (RPO). Die Türken haben mit deutlicher Mehrheit für eine Änderung ihrer Verfassung gestimmt. Hochrechnungen zufolge votierten zwischen 58 und 60 Prozent für das Reformpaket. Nun soll die Verfassung geändert werden. Für das Land bringt das einen Zuwachs an Bürgerrechten und Demokratie. Die EU könnte in den Beitrittsverhandlungen unter Zugzwang geraten.

Grundlage für die ersten Hochrechnungen waren Daten aus rund 76 Prozent der Wahlbezirke im ganzen Land. Das Ergebnis: eindeutig. Eine klare Mehrheit ist für Änderungen in der Verfassung. Dr türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich entschieden für die Änderungen stark gemacht hatte, ist damit klarer Sieger des Referendums. Rund 50 Millionen Stimmberechtigte waren zur Stimmabgabe aufgerufen.

Der Fernsehsender NTV berichtete, 60 Prozent unterstützten die von der Regierung beworbenen Reformen, 40 Prozent hätten sich dagegen ausgesprochen. Der Sender CNN-Türk meldete ähnliche Zahlen. Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warb mit Blick auf den erhofften EU-Beitritt damit, die insgesamt 26 Änderungen sollten die Türkei demokratischer machen. Geplant ist unter anderem, die Streitkräfte stärker der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen.

Der Sieg bei der Volksabstimmung ist ein großer politischer Erfolg für Erdogan. Seine Regierungspartei AKP hatte im Wahlkampf vor dem Referendum einen Block aus allen wichtigen Oppositionsparteien gegen sich. Die Volksabstimmung galt zudem als wichtiger Stimmungstest zehn Monate vor den nächsten Parlamentswahlen im kommenden Sommer.

Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warb mit Blick auf den erhofften EU-Beitritt damit, das die insgesamt 26 Änderungen die Türkei demokratischer machen sollten.

Die wichtigsten Änderungen im Überblick:

Streitkräfte Beschlüsse des Obersten Militärrates, der über Beförderungen und Entlassungen in der Armee entscheidet, unterliegen künftig der Kontrolle durch die zivile Justiz. Die Anführer des Putsches von 1980 verlieren ihre bisherige Immunität vor Strafverfolgung und dürfen wegen der vielen Menschenrechtsverletzungen nach dem Staatsstreich vor Gericht gestellt werden.

Dies ist nicht unumstritten. Die Opposition sieht darin den Versuch der islamisch orientierten Regierung, die weltlichen Prinzipien der Türkei zu untergraben und ihren Einfluss auf die Justiz zu vergrößern.

Positive Diskriminierung: Fördermaßnahmen für Frauen, Kinder, Behinderte und Kriegsversehrte werden verfassungsrechtlich abgesichert. Damit sollen die Arbeitsmarktchancen dieser Gruppen verbessert werden.

Gewerkschafts- und Beamtenrechte: Die Türken erhalten das Recht, gleichzeitig Mitglied in mehr als einer Gewerkschaft zu sein. Das Streikrecht wird ausgeweitet.

Ombudsmann: Das türkische Parlament soll künftig alle vier Jahre einen Ombudsmann wählen, der die Kontrolle über die Verwaltung verbessern und Beschwerden von Bürgern nachgehen soll.

Justiz: Die Zahl der Verfassungsrichter wird von elf auf 17 erhöht. Die Rolle von Staatspräsident und Parlament bei der Auswahl neuer Verfassungsrichter wird gestärkt. Auch der Richterrat, ein Gremium zur Ernennung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten, wird von sieben auf 22 Mitglieder erweitert. Die Vertreter der höchsten Justizorgane, die als besonders erbitterte Gegner der Erdogan-Regierung gelten, verlieren an Einfluss.

EU-Beitritt bleibt umstritten

Die Regierung hat für ihre Reformen die Unterstützung der Europäischen Union bekommen und einen möglichen EU-Beitritt auch in der öffentlichen Diskussion immer wieder als Argeument für eine Demokratisierung der Türkei vorgetragen.

Doch ob sich der erhoffte Erfolg, der Beitritt zur Europäischen Union, einstellen wird, bleibt höchst fraglich. Der wachsenden weltpolitischen Bedeutung Ankaras zum Trotz bleibt die Europäische Union in der Türkei-Politik gespalten.

Außenminister Guido Westerwelle warb am Wochenende für eine Partnerschaft ohne EU-Ticket: „Die Türkei erwartet nicht, dass man ihr irgendwelche Zusagen macht, sie sei bald Mitglied“, sagte Westerwelle am Samstag. Entscheidend sei das Signal, dass der Prozess fair ablaufe und man Ankara als Partner „auf Augenhöhe“ ernst nehme.

Diplomaten warnen vor einem Abdriften

Die meinungen innerhalb der EU gehen auseinander. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton kam auf einer Außenministerkonferenz am Wochenende ihrem Ziel, die EU auf einen einheitlichen Kurs einzuschwören, keinen Schritt näher. Es sei wichtig, den Beitrittsprozess fortzusetzen, sagte sie auf der Abschlusspressekonferenz und mahnte „Handlungen auf beiden Seiten“ an.

Ohne Durchbruch drohen die Verhandlungen steckenzubleiben. Der Start der Gespräche liegt fünf Jahre zurück, doch erst 13 von 33 Verhandlungskapitel sind eröffnet. Und bis auf drei werden alle übrigen noch geschlossenen Kapitel derzeit von Frankreich und Zypern blockiert. Sollte es der belgischen Ratspräsidentschaft nicht gelingen, bis Ende des Jahres zumindest für einen weiteren Bereich Gespräche aufzunehmen, wäre der Prozess in einer Sackgasse gefangen. Angesichts der jüngsten Hinwendungen Ankaras zur islamischen Welt warnen Diplomaten bereits vor einem „Abdriften“ der Türkei.

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