Schleichende Osterweiterung
Aufgrund vager Verbindungen zu Mitgliedsstaaten können fünf Millionen Moldawier, Mazedonier, Serben, Ukrainer und Türken EU-Bürger werden
von Sascha Lehnartz
Paris – Die Europäische Union erweitert sich auf dem Schleichweg. Immer mehr Bürger europäischer Staaten, die nicht der EU angehören, finden Mittel und Wege, bereits jetzt EU-Bürger zu werden – indem sie sich der Heimat ihrer Vorfahren entsinnen und entsprechende Pässe beantragen.
Gleich drei osteuropäische Grenzstaaten – Ungarn, Rumänien und Bulgarien – verfügen über großzügige Regelungen, die es vor allem den Bewohnern ehemaliger Teile ihres Staatsgebietes erleichtern, einen europäischen Pass zu beantragen. Besonders attraktiv erscheint diese Möglichkeit für Moldawier, Mazedonier, Serben, Ukrainer und Türken. Nach einem Bericht der französischen Zeitung „Le Figaro“ haben bis zu fünf Millionen Bürger dieser Länder theoretisch Anspruch auf eine EU-Staatsbürgerschaft.
Den Weg dorthin hat beispielsweise das ungarische Parlament mit einem Gesetz geebnet, das die konservative Regierung unter Premierminister Viktor Orbán am 26. Mai unter Zustimmung der rechtsextremen Jobbik-Partei verabschiedete. Demnach können bis zu 3,5 Millionen Nichtungarn mit eher vagen Verbindungen zu ehemals ungarischen Gebieten darauf hoffen, künftig auch die ungarische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Das Königreich Ungarn hatte nach dem Zerfall der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Trianon im Jahr 1920 zwei Drittel seines Territoriums und die Hälfte seiner Bevölkerung eingebüßt. In den Genuss der Rückholaktion kämen heute rund 300 000 Serben in der ehemals ungarischen Vojvodina sowie 150 000 Ukrainer mit ungarischen Wurzeln.
In Rumänien leben heute rund 1,5 Millionen historische Teilzeitungarn, weitere 520 000 sind es in der Slowakei. Diese beiden Länder sind zwar bereits EU-Staaten, die Abwerbung ihrer Bürger stimmt die dortigen Regierungen dennoch nicht eben froh. Das Parlament in Bratislava hat bereits ein Gesetz eingebracht, nachdem jeder Bürger, der die ungarische Staatsbürgerschaft beantragt, die slowakische zurückgeben muss.
In Rumänien dagegen reagiert man auf die ungarische Initiative bislang eher zurückhaltend. Zum einen, weil man die ungarische Minderheit der Szekler im östlichen Siebenbürgen nicht unnötig reizen will, die gelegentlich etwas lauter von Autonomie träumt. Andererseits hat Rumänien selbst eine ähnliche Regelung erlassen, die es den Nachbarn im bettelarmen Moldawien ermöglicht, einen rumänischen Pass zu beantragen. Der rumänische Präsident Traian Basescu hatte im April 2009 entschieden, so ziemlich allen Moldawiern die rumänische Staatsangehörigkeit zu gewähren, die dies wünschen. „Unsere Blutsverbindungen verpflichten uns zu helfen“, sagte Basescu. 120 000 Moldawier haben bereits einen rumänischen Pass, weitere 800 000 sollen einen beantragt haben. Auf das schwächelnde Moldawien mit seiner komplizierten Geschichte wirkt dieser Aderlass destabilisierend. Von den derzeit noch anwesenden rund vier Millionen Moldawiern spricht etwa ein Drittel Russisch, zwei Drittel sprechen Rumänisch. Auch Bulgarien hat mittlerweile Maßnahmen zur Repatriierung seiner rund 2,5 Millionen Auslandsbulgaren ergriffen. Wer seine bulgarischen Wurzeln nachweisen kann, erhält aus Sofia einen Pass. Attraktiv ist dieses Angebot vor allem für Ukrainer, Moldawier, Albaner, Türken und Mazedonier. Bei letzteren wird die Zahl der mit Bulgarien verbandelten auf 1,4 Millionen geschätzt – das sind drei Viertel der Bevölkerung Mazedoniens. Die meisten Bulgaren halten die Sprache der Mazedonier ohnehin für einen bulgarischen Dialekt. Mit relativ offenen Armen empfängt Sofia auch die Pomaken, eine islamische Minderheit, deren Angehörige in den Achtzigerjahren oft vor Verfolgungen in die Türkei geflüchtet waren. Dort schätzt man ihre Zahl heute auf 350 000. Sie kämen nun schneller in die EU, wenn sie einen bulgarischen Pass beantragten, als wenn sie darauf warteten, dass die Türkei aufgenommen wird.
Quelle:
Osterweiterung.html