Kommentar:
Die Türkei braucht Zeit
Europa macht viele Fehler im Verhältnis zu Ankara
Ist das nicht schön, dass die Türken so gute Freunde haben wie David Cameron? Verbündete, die viel netter sind als die Deutschen, die ständig betonen, dass die Türkei noch nicht reif sei für einen EU-Beitritt, und von denen viele nur eine privilegierte Partnerschaft anbieten anstelle einer vollwertigen Aufnahme in den Club?
Der britische Premier, der Stunden vor dem deutschen Außenminister Westerwelle (siehe Seite 4) seine Aufwartung am Bosporus machte, hatte sich ins Zeug gelegt und für einen türkischen EU-Beitritt geworben. »Dies ist eine Sache, in der ich sehr leidenschaftliche Gefühle hege«, sagte Cameron. Spätestens da hätten die türkischen Gastgeber stutzig werden müssen.
Leidenschaftlich sind die Briten in europäischen Dingen selten, zumindest nicht, wenn es um eine Vertiefung des europäischen Gedankens geht. In den vergangenen Jahren sind sie auf der Brüsseler Bühne nie als Aktivposten aufgefallen. Auch die Beziehungen des Königreichs zur Türkei sind deutlich weniger intensiv als die der Deutschen. Warum also wirbt London so vehement für eine Aufnahme Ankaras in den europäischen Club?
Die EU blockieren
Die Antwort ist einfach: Ein Beitritt der Türkei würde die EU noch mehr lähmen, als dies jetzt schon der Fall ist. Und genau das ist es, was die britische Regierung im Schilde führt – ganz unabhängig davon, ob gerade die Tories oder Labour den Premier stellen.
Das verhält sich ganz ähnlich wie bei den Amerikanern, die ungefragt immer wieder anmahnen, die EU müsse doch endlich die Türkei in ihren Kreis aufnehmen. Auch Washington hat nur global-strategische Interessen im Blick. Die Türkei soll noch stärker als bisher als Brückenkopf zwischen islamischer und westlicher Welt dienen. Dass die EU von einer Aufnahme der Türkei derzeit heillos überfordert wäre, wird billigend in Kauf genommen, wenn nicht gar gewünscht.
Aus türkischer Sicht sind die Europäer derzeit ein eher wirrer Haufen. Die Briten wollen möglichst rasch eine Aufnahme. Die Franzosen wollen das auf jeden Fall verhindern, weswegen ihr populistischer Präsident Nicolas Sarkozy ein Referendum in die Verfassung schreiben ließ. Dessen Ausgang wäre heute eindeutig: Die Tür bleibt zu. Die Deutschen lavieren, wie immer, dazwischen herum.
Beiderseitige Missverständnisse
Es läuft viel verkehrt im Verhältnis der Europäer zur Türkei. Die Missverständnisse sind beiderseitig. Viele Menschen am Bosporus halten die EU in erster Linie für eine Organisation, in der die Reicheren den Ärmeren helfen. Dabei wird die Größe der Fördertöpfe überschätzt. Und es wird übersehen, dass es letztlich viel eher um gemeinsame politische und kulturelle Werte geht – auch wenn das im mühsamen Brüsseler Alltag oft verschüttet wird.
Auch die Europäer verhalten sich ungeschickt. Selbst in der Türkei ist allen Realisten klar, dass ein EU-Beitritt in den nächsten 15 Jahren ambitioniert wäre. Warum müssen dann die hiesigen C-Parteien ständig ihre Ablehnung wiederholen, gerade so, als stehe eine Entscheidung unmittelbar bevor? So werden nur Ressentiments geschürt.
Ungeschickt ist es auch, bei den Verhandlungen den Zeitdruck hochzuhalten. Die Türkei braucht Zeit, um im eigenen Land den Denkprozess voranzubringen. Die Europäer wären gut beraten, diese Geduld aufzubringen und das Land zu ermutigen. Welch wertvollen Beitrag die Türkei auch für Europa leisten könnte, ist beim Blick auf die Nachbarschaft zu den Regionalmächten Irak, Iran und Israel doch unübersehbar. Die Konflikte in dieser Region zu lösen, wäre mit einem aktiven Partner Türkei viel leichter. Stieße Europa Ankara zurück, schadete es sich selbst am meisten.
Georg Escher
29.7.2010
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